Vortrag: Dr. Peggy H. Breitenstein: “Anekdoten der Vergangenheit? Marx zum Verhältnis von offener Gewalt und struktureller Herrschaft”

Datum: 
Dienstag, 17. April 2018 - 18:30 - 20:00
Ort: 
WIL/A221
Veranstaltet von: 
Referat politische Bildung
Gesellschaftsformationen – feudalistische, kapitalistische etc. – können Marx zufolge nicht im luftleeren Raum oder auf dem Reißbrett entstehen, sondern nur aus bereits bestehenden Gesellschaften. Wie in seinen Augen der Kapitalismus entsteht, beschreibt er sehr eindrücklich im 24. Kapitel des ersten Bandes des Kapital, das überschrieben ist mit „Die sogenannte ‚ursprüngliche Akkumulation‘“. Die zentrale Frage ist hier: Wie entsteht Kapital, genauer eine Kapitalmenge, deren vorrangiger Zweck „Verwertung des Werts“ ist und die dergestalt als Ursprung eines eigendynamischen, selbsttragenden, unabschließbaren Prozesses beständigen Kapitalwachstums angesehen werden kann, den Marx zugleich als notwendige Bedingung dieser Wirtschaftsweise analysiert.
Ausgangspunkt ist die Kritik an einem Gründungsmythos, wie er gewöhnlich in der Politischen Ökonomie (und nicht nur dort und nicht nur zu Marxens Zeiten) erzählt wird: Die „ursprüngliche Akkumulation“ – so Marx – spiele hier „ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen .... So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten. ... In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und ‚Arbeit‘ waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel ....“
Diesen Gründungsmythos konfrontiert Marx allerdings mit einer faktengesättigten, gut belegten Gegengeschichte, in der er u.a. vor Augen führt, wie „große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert“ oder wie das „zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert“ wurde. Doch die Darstellung der konkreten Gewaltakte und Mittel, derer sich vor allem Staatsgewalten letztlich bedienten, um die für den Kapitalismus konstitutive Trennung von Produzenten und Produktionsmitteln durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, beschränkt sich im Kapital keinesfalls auf diese Gegengeschichte. Der gesamte erste Band des „ökonomischen“ Hauptwerks von Marx kann (auch) als eine Kritische Theorie der Gewalt gelesen werden; einer Gewalt allerdings, die Menschen sich nicht nur gegenseitig, sondern auch sich selbst antun, sofern sie der Herrschaft des automatischen Subjekts „Kapital“ unterworfen sind.
Genau dies soll im Vortrag gezeigt werden und führt hoffentlich zu Überlegungen und anregenden Diskussionen darüber, was daraus gefolgert werden kann für uns und unsere Praxis. Im Vortrag werden zudem Grundbegriffe (z.B. „Gewalt“ und „Herrschaft“) differenziert und geklärt sowie der Zusammenhang polemischer Konzepte (wie „Fetischismus“ und „Versachlichung“ bzw. „Verdinglichung“) erläutert.