Jörg Huber: Grenzen der Instrumentellen Vernunft

Datum: 
Dienstag, 7. Februar 2023 - 19:00 - 21:00
Ort: 
POT/112/H, Hettnerstr. 1, 3
Veranstaltet von: 
Referat Politische Bildung

Moderne maschinelle Produktion und Organisation basieren auf bewährten mathematisch-naturwissenschaftlichen und informatischen Theorien. Deren Erkenntnisse haben universale Geltung, weil ihnen eine gewisse Regelhaftigkeit in der Natur entspricht. Sie dienen auf der ganzen Welt als Grundlagen für die Techniken, die unseren Arbeitsalltag und inzwischen auch unsere Freizeit in immer stärkerem Maß bestimmen. Unser ganzes Denken gleicht sich ihnen schon seit längerem an, die Nutzung von mikroelektronisch gestützter Informationstechnologie beschleunigt diesen Prozess.

Technologie ermöglicht es sowohl Unternehmen als auch Individuen, sich selbst, ihre Produktion oder ihren Alltag immer effizienter zu organisieren. Ihr Einsatz erfolgt jedoch nicht unbedingt aus freien Stücken. Wer im allseitigen Konkurrenzkampf nicht auf der Strecke bleiben möchte, muss mit dem in seiner Gesellschaft etablierten technologischen Niveau mithalten.

Waffentechnologie ermöglicht den Nationalstaaten ihre nötige Souveränität gegenüber feindlichen Nationen zu sichern oder auf deren Kosten gar zu erweitern. Der Einsatz des Zerstörungspotentials steht dabei häufig nur als Drohung im Raum, aber auch jede noch so diplomatische Politik basiert letztlich darauf, dass sie sich verwirklichen lässt. Die Staaten haben die Wahl zwischen einer defensiven oder aggressiven Haltung, aber sie müssen mit der Bewaffnung ihrer feindlich gesinnten Nachbarn wohl oder übel mithalten.

Der rasante naturwissenschaftlich-technische Fortschritt liefert also nicht nur Mittel zur materiellen Verbesserung des Lebens, sondern auch diejenigen zu seiner Reglementierung oder gar Vernichtung und setzt Gesellschaften und ihre Mitglieder unter beständigen Modernisierungszwang. Er kann seiner in mehrerlei Hinsicht ambivalenten Rolle nicht entkommen, weil er zwar allgemein gültige Erkenntnisse nutzt, aber von sich aus an keine allgemein vernünftigen Ziele gebunden ist. Der kapitalistische Fortschritt, den Marx zu Zeiten der Industrialisierung noch leicht optimistisch “Entfesselung der Produktivkräfte” nennen konnte, wuchert bis heute quasi naturwüchsig wie ein Dschungel und wird von den Nationen bestenfalls notdürftig gesteuert, wenn er ihre Existenzgrundlage zu zerstören droht.
Aktuell herrschen im wesentlichen zwei vermeintlich naturwissenschaftlich fundierte Weltbilder vor, die von diesen grundsätzlichen Problemen weitgehend absehen und dem rein instrumentellen Denken korrespondieren. Obwohl sie in teilweise erbitterter diskursiver Konkurrenz zueinander stehen, eint sie ihr Machbarkeitswahn.

Das (neo-)liberale Weltbild hält die Natur im Prinzip für beliebig ausbeutbar, ihrer Eroberung und Indienstnahme zur Erweiterung menschlicher Macht sollen prinzipiell keine Grenzen gesetzt sein. Diese Überzeugung findet ihren deutlichsten Ausdruck in den nicht enden wollenden Träumereien und Versprechungen einer Expansion der Menschheit in den Weltraum. Sie lässt sich von den dort herrschenden lebensfeindlichen Bedingungen und den unüberbrückbaren Entfernungen im Kosmos erstaunlich wenig beeindrucken. Stärkere Investitionen gepaart mit leistungsorientierten Tugenden wie Erfindergeist und Risikobereitschaft können angeblich jede natürliche Hürde überwinden.

Das neuere ökologische Weltbild meint in der irdischen Natur eine hochkomplexe kybernetische Struktur erkennen zu können und glaubt sich auch systemtheoretisch in Mutter Natur einfühlen zu können. Es glaubt sicher zu wissen, dass die Natur von sich aus nach einem stabilen harmonischen Gleichgewicht im ewigem Werden und Vergehen strebt. Auf ein solche Harmonie im Einklang mit der Natur soll die Menschheit nun bei Strafe ihres Untergangs hinarbeiten und dabei für ihre bisherigen ökologischen Verfehlungen büßen. Das ökologische Top-Thema sind aktuell die mit immer größerer Rechenpower entworfenen apokalyptischen Zukunftsszenarien für das Weltklima. Der perhorreszierte allgemeine Untergang lässt aktuelles Leid (auch das durch lokale Wetterkatastrophen!) verblassen. Mit dem moralischen Appell an das vermeintlich universale Interesse an der Erhaltung der Gattung werden ständig neue Forderungen nach individuellem Verzicht gerechtfertigt, die bis hin zur Empfehlung von Subsistenz-Ökonomie reichen.

Beiden Weltbildern ist gemein, dass sie ihre gesellschaftlichen Ziele nicht als solche reflektiert sehen wollen, sondern als Sachzwang verstanden wissen möchten. Sie projizieren sie auf die Natur und fordern Bürger auf einer nur scheinbar naturwissenschaftlichen Grundlage dazu auf, sich an vorgeblich unabänderliche Verhältnisse anzupassen. Auch in der inzwischen abflauenden Corona-Pandemie haben sie beide auf ihre Weise die öffentliche Diskussion über möglichst effektive Maßnahmen zum Schutz vor dem neuartigen Virus und auch die über womöglich wirkungslose staatliche Auflagen behindert. Wichtige pragmatische Reaktionen auf diese Naturkatastrophe und ihre gesellschaftlichen Folgen sind ihren ideologischen Konzepten zum Opfer gefallen.

Der Referent Jörg Huber ist Physiker und freier Autor.