Aljoscha Bijlsma: Einstand des Sinnlosen. Zu Theodor W. Adornos Ästhetik nach Auschwitz

Datum: 
Mittwoch, 24. Mai 2023 - 19:00
Ort: 
objekt klein a, Meschwitzstraße 9
Veranstaltet von: 
Referat Politische Bildung

Kunst ist für Theodor W. Adorno die gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft. Antithesis, weil sie autonom, zugleich gesellschaftlich, weil sie fait social ist. Gesellschaft teilt also ohne Unterlass der Zone der Autonomie der Kunst sich mit. Die Ästhetische Theorie Adornos kann mitsamt den musikalischen und literarischen Schriften als eine Auseinandersetzung mit dieser Antinomie begriffen werden.
Was schon vor dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) eine nicht aufzulösende Antinomie darstellte, radikalisierte sich durch die Erfahrung, dass Auschwitz möglich war und weiterhin möglich ist, zu einer radikalen Infragestellung der Daseinsberechtigung von Kunst. Wir Heutigen haben uns längst daran gewöhnt, in postnazistischen Zeiten zu leben. Der Satz Adornos, nach dem es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben – 1949 gegen die wieder auferstandene Kultur formuliert – provoziert deshalb noch immer, weil er ungeschminkt den Schock transportiert, der mit Auschwitz als historischer Erfahrung verbunden ist. In späteren Arbeiten wird die Erfahrung jenes Schocks noch radikalisiert: Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll, heißt es in der Negativen Dialektik.
Die Versuchung ist groß, angesichts dieser ausweglosen Konstellation in Schweigen zu verfallen. Dies gilt für die Kritik ebenso wie für die Kunst. Gäbe man der Versuchung nach, machte man sich aber erst recht zum Komplizen der Verhältnisse. Für den Bereich der Kunst hieße Schweigen, der alles absorbierenden Kulturindustrie das Feld zu überlassen. Das Diktum, Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, sei barbarisch, muss also ergänzt werden: Man muss Gedichte schreiben, solange es ein Bewusstsein des Leidens unter den Menschen gibt, und zwar als objektive Gestalt dieses Bewusstseins. Diese Gestalt aber kann keine mehr sein, die aus ihrer konkreten Zusammensetzung den Schein von Sinn erzeugt, sondern die Negation von Sinn wird in der Ästhetischen Theorie Adornos zur aporetischen Gestalt von Kunst. Die sinnlosen oder sinnfremden Werke werden mehr als bloß sinnlos, weil ihnen Gehalt in der Negation von Sinn zuwächst.

Empfohlene Literatur:
Theodor W. Adorno: Das Kapitel „Stimmigkeit und Sinn“ aus der Ästhetischen Theorie (Gesammelte Schriften 7), 205–244.
Theodor W. Adorno: „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: Prismen (Gesammelte Schriften 10/1), 11–30.
Theodor W. Adorno: Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), herausgegeben von Rolf Tiedemann (Nachgelassene Schriften IV/14), Frankfurt a. M. 1998, insbesondere die 14. Vorlesung „Zur Liquidation des Ichs“ (161ff.).
Weiterführend: Gerhard Scheit: Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno, Freiburg 2011, 164–192.