Franz Heilgendorff: Das Schicksal der Sinnlichkeit unter spätkapitalistischen Bedingungen

Datum: 
Mittwoch, 17. Mai 2023 - 19:00
Ort: 
objekt klein a, Meschwitzstraße 9
Veranstaltet von: 
Referat Politische Bildung

Wenn hier vom Schicksal der Sinnlichkeit gesprochen wird, soll dies auf das sinnliche Erkenntnisvermögen verweisen und als dieses wird im Vortrag Ästhetik aufgefasst werden. Marx folgend bedeutet Sinnlichkeit die Fähigkeit, die Umwelt in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse zu erfahren. Ein nichtrepressive Form vorausgesetzt sind so Empfindung und Erkenntnis verbunden, wie es sich in den klassischen ästhetischen Kategorien des Wahren, Schönen und Guten abzeichnete.
Diese Doppelstruktur sinnlichen Erkenntnisvermögens verweist mittels der Empfindung als Lust oder Unlust auf die psychische Disposition und Bedürfnisstruktur des Einzelnen; die Wahrnehmung als erkenntnistheoretisches Moment auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Beides wird in der kritischen Theorie gesellschaftlich vorstrukturiert gedacht, denn der sinnliche Bezug auf die Gegenstände ist nicht, wie noch bei Kant vermittels der Anschauungsformen von Raum und Zeit, von aller Geschichte abgetrennt. An ihre Stelle rückt die Totalität von Gesellschaft, in der sich die Formbestimmung der Dinge vollzieht. Die kantsche Überlegung, dass wir von den Dingen nur das erkennen, was wir selbst in sie hineinlegen, erhält so eine völlig neue Bedeutung und die Frage der Gegenstandskonstitution wird zum Kern einer kritischen Theorie der Gesellschaft.

Exemplarisch vollzogen wird diese Denkbewegung am Begriff der Warenästhetik, dem der Vortrag gewidmet ist. Auf den ersten Blick um Probleme der Ästhetik und Psychologie kreisend, zielt er auf die materielle Basis der Herrschaft des Kapitals, denn die Ware löst ein doppeltes Realisationsproblem: In ihrem ästhetischen Gebrauchswertversprechen, dass der Realisierung der Kapitalverwertung dient (1), knüpft die Ware an die psychologische Verfasstheit der Einzelnen an und stellt eine Bewegungsform ihrer Wünsche, Träume und Bedürfnisse dar (2). Mittels der Warenwelt entsteht eine neue organisatorische Qualität, in der sich der repressive kapitalistische Produktionsprozess mit Begriffen der Bedürfnisbefriedigung verbindet, andererseits aber auch verdrängten und unbewussten Bedürfnissen eine Ausdrucksform gibt. Was zuvor nur der Kunst vorbehalten war, die Wirklichkeit in freiem Spiel umzugestalten, spiegelt sich so ideologisch in der sogenannten Ästhetisierung der Lebenswelt.

Zugleich zeichnet sich jedoch in den multiplen Krisen der Gegenwart und des Subjekts ab, dass diese Form der Bedürfnisbefriedigung repressiv, Vehikel des kapitalistischen Produktionsprozesses bleibt. Kritische Theorie orientiert dagegen im Ringen um das schöne, gute und wahre Leben auf Prozesse kollektiver Selbstorganisation, in der die Wahrnehmung von Bedürfnissen die Fähigkeit schafft, politische Phantasie außerhalb bestehender gesellschaftlicher Kategorien zu entwickeln.

Literatur:
Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte vom Jahre 1844, Reclam Verlag, 1988
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1 (=MEW 23)
Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Suhrkamp 2009
Hans Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Verlag Neue Kritik, 2008 (1971)
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, zu Klampen (2014)