V: Die Utopie und Romanform - Charles Dickens als Chronist des Verfalls utopischen Denkens

Datum: 
Dienstag, 10. Mai 2016 - 16:40 - 18:10
Ort: 
HSZ/401/H
Veranstaltet von: 
Referat politische Bildung

Referent: Björn Oellers

Der Roman, so formulieren es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, ist das geschichtsphilosophische Widerspiel des Epos. Diese literarischen Formen haben verschiedene historische Voraussetzungen: Das Epos entsteht aus einer mythisch verstandenen Welt, der Roman aus der Auflösung dieses mythischen Weltverständnisses. 
Die literarische Form des Romans entsteht mit dem Verschwinden der mittelalterlich-feudalen Ordnung und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. In ihrem Mittelpunkt steht der Held der Handlung, das bürgerliche Individuum. Er ist der Bezugspunkt der Handlung, seine Erlebnisse und Erfahrungen bilden Anfang und Ende des Geschehens und begrenzen den Umfang des Erzählten. Die literarische Form des Romans enthält damit eine Utopie. Denn die genannten Aufgaben kann 
der Held nur erfüllen, wenn er als ein Eigenständiges gedacht ist, als ein Individuum vorausgesetzt ist: Der Akt des Erzählens schafft eine dem Individuum angemessene, auf das Individuum bezogene Welt. So ist der Roman ein literarischer Ausdruck der Trennung von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und Objekt. 
Georg Lukács thematisiert den Held des Romans als problematisches Individuum: Es ist stets der Gefahr ausgesetzt zugrundezugehen, seine utopischen Ideen können jederzeit in Illusionen umschlagen, denn dem Held wird zugemutet, was er nicht leisten kann: Als einzelnes Individuum eine Welt zu erschaffen. So ist mit der Utopie die Gefahr ihrer Zerstörung gesetzt, die Gefahr der Übermacht der Gesellschaft über die Einzelnen, literarisch: die Handhabung des Helden als 
erzählerisches Mittel zur Einrichtung der Erzählwelt.

Der utopische Gehalt des Romans hängt jedoch näher von den historischen Bedingungen ab, unter denen das jeweilige Werk entsteht. Ihren historischen Höhepunkt erreicht die Romanform im 19. Jahrhundert, in der Epoche des Liberalismus. Insbesondere in Großbritannien, dem ökonomisch weitestentwickelten Land dieser Zeit, gehört der Roman zu den Mitteln der Unterhaltung als auch der politischen Auseinandersetzung. Ein Autor, der diese Verbindung exemplarisch verkörpert, ist 
Charles Dickens. 
Im Vortrag wird die Verbindung von Utopie und Literatur anhand von Lukács´ Theorie des Romans dargestellt und an ausgewählten Romanen von Charles Dickens exemplarisch untersucht. Es zeigt sich eine historische Entwicklung des Verfalls von Utopie im Liberalismus: Enthalten die Romane zu Beginn von Dickens’ Schaffen noch gesellschaftliche Gegenentwürfe und Alternativen, so gehen diese in den folgenden Romanen verloren. An ihre Stelle treten die Zerstörung des Individuums und der Utopie, ja des Vermögens zu utopischem Denken.

Die Vorlesung ist Teil der Ringvorlesung des Referats politische Bildung: "NOWhere - Nirgendwo ins Irgendwo. 14 Kommenatre zu utopischem Denken".