Vergangene Veranstaltungen PoB

Zur Kategorie der Arbeit. Kritik und Analyse eines gesellschaftlichen Verhältnisses

Podiumsdiskussion mit Daniel Göcht und Ernst Lohoff

Zeit: 27.02.2024, 19 Uhr
Ort: Jugendraum im Volkshaus Dresden, Schützenplatz 14, 01067 Dresden (Zugang über Parkplatz)

 
Erst kürzlich bezeichnete der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz mit Verweis auf Martin Luther Arbeit als „sittliche Pflicht“. Nach Luther, aber vor Scholz schrieb Karl Marx, dass die Arbeit in der kommunistischen Gesellschaft „das erste Lebensbedürfnis“ sein würde. Was über den Toren des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau stand, ist bekannt. So scheinen zunächst alle widerstreitenden Positionen darin einig zu sein, dass Arbeit die grundlegende Kategorie des gesellschaftlichen Seins oder dessen höchstes Prinzip ist. Allerdings ist die Kategorie der Arbeit sowohl innerhalb politischer Bewegungen als auch in gesellschaftskritischen Zusammenhängen Gegenstand von Auseinandersetzungen: Soll die Arbeit befreit werden oder geht es darum, die Menschen von der Arbeit zu befreien? Inwiefern kann die kapitalistisch organisierte Arbeit kritisiert werden? Und: muss dann nicht die Arbeit als Abstraktum einer allgemeinen Kritik unterzogen werden? Die Diskussion dieser Fragen zeitigt notwendig Konsequenzen für politsches Handeln. Annahmen darüber, ob „Klassenkampf“ oder „Arbeitskampf“ progressive oder gar revolutionäre Mittel sind, setzen ein spezifisches Verständnis der Kategorie Arbeit voraus. Wer von Freiheit redet, sollte sich gleichsam darüber Gedanken gemacht haben, ob es die Möglichkeit freier Tätigkeit auch dann gibt, wenn die Arbeit, also ein Abstraktum, weiterhin als das Verhältnis der Vergesellschaftung schlechthin gilt. Um die Grundlagen dieser Auseinandersetzungen zu erhellen, werden auf dem Podium Daniel Göcht und Ernst Lohoff diskutieren. Ihre Positionen, die eine an Lukács orientiert, die andere wertkritisch argumentiert, sind im Folgenden von den Diskutanten selbst skizziert.

Daniel Göcht:
Arbeit als Auseinandersetzung mit der gegenständlichen Welt, als Vermittlung ihres Stoffwechsels mit der Natur, begleitet die Menschheit in ihrer Geschichte als „ewige Naturnotwendigkeit“. Es ist die Art und Weise wie Menschen ihre Lebensmittel gewinnen und zugleich die Grundlage der menschlichen Geschichte. In der tätigen Auseinandersetzung mit den Naturgegenständen gewinnen die Menschen neue Fähigkeiten und neue Bedürfnisse und treten so in einen Entwicklungsprozess ein. Das tun sie nicht bewusst, aber sie tun es. Die menschliche Produktion findet immer schon in gesellschaftlichen Zusammenhängen statt, im entwickelten Kapitalismus im globalen Maßstab. Nicht erst im Kapitalismus, aber hier vollends, erscheint die eigene Tätigkeit und der gesellschaftliche Zusammenhang, in der sie steht, als eine fremde Macht, die das eigene Handeln beherrscht. Auch die eigenen produktiven Kräfte erscheinen als solche des Kapitals, mithin als fremd und gewinnen aufgrund ihrer Unbeherrschtheit einen mitunter destruktiven Charakter. Die gesellschaftliche Seite der Arbeit wird hier als Wert vergegenständlicht, dessen Vermehrung zum Selbstzweck und damit maßlos wird. Die (fraglos nicht nur wünschenswerte, vielmehr notwendige) Überwindung dieser Produktionsweise würde gewiss nicht das Ende der Arbeit bedeuten, sondern die Aneignung ihres gesellschaftlichen Charakters und mehr und mehr die Beherrschung der eigenen produktiven Kräfte durch die arbeitenden Menschen selbst.
Daniel Göcht hat Philosophie und Germanistik studiert, mit einer Arbeit über Georg Lukács promoviert und arbeitet bei einer Gewerkschaft.

Ernst Lohoff:
Seit dem 19. Jahrhundert gilt die Arbeit quer durch die politischen Lager als unantastbar und heilig. Erst die Arbeit machte aus Affen Menschen, meinte Engels. Die Volksgemeinschaft der Nazis vereinte die „Arbeiter der Stirn und Faust“. „Gute Arbeit“ verspricht die SPD regelmäßig auf ihren Wahlplakaten. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Menschen haben keineswegs schon immer gearbeitet. Nur eine Gesellschaft, die allen Reichtum in Warenreichtum verwandelt, verwandelt alles gesellschaftlich anerkannte Tun in dasselbe, in Arbeit. Die Arbeit ist zusammen mit dem Kapitalismus entstanden und diesen überwinden, bedeutet an die Stelle der Arbeit freie Tätigkeit setzen. Gute Arbeit, nicht entfremde Arbeit sind ein Widerspruch in sich. Wo gearbeitet wird, da geht es um Produktion, um der Produktion willen und nicht um menschliche Bedürfnisse. Arbeit ist untrennbar mit einem hochgradig zerstörerischen Verhältnis zur Natur verbunden, mit Selbstunterdrückung und mit der Abwertung von Care-Tätigkeiten. Keines der drängenden gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit, von der Klimakatastrophe über die soziale Frage bis zur sexistischen und rassistischen Gewalt lässt sich letztlich lösen, solange die Arbeit der Kitt sein soll, der die Gesellschaft zusammenhält. Die Kritik der Arbeit wäre ein Eckpfeiler eines Emanzipationsprogramms, das diesen Namen verdient.
Ernst Lohoff, Jahrgang 1960, ist freier Autor, Mitbegründer der Zeitschrift „Krisis“ und Mitautor des Manifestes gegen die Arbeit.

 

 

Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand

Ein Vortrag von Matthias Küntzel
Zeit: 21.02.2024, 19 Uhr
Ort: TU Dresden Campus, SCH/A118/H

Aufgrund einiger Missverständnisse bezüglich des anstehenden Vortrages mit Matthias Küntzel haben wir nachfolgend Hinweise für dessen Einordnung notiert:

Der Vortrag unterstellt, anders als vielfach behauptet, Menschen mit arabisch-muslimischem Hintergrund  nicht pauschal Antisemitismus.  Keineswegs werden die Verbrechen der Deutschen nachträglich Muslimen angehängt. Auch die Geschichte vom importierten Antisemitismus welche den tief in der deutschen Gesellschaft verankerten vergessen machen soll, wird nicht verbreitet. Dagegen werden im Vortrag Ursprünge und Genese des Antisemitismus in der arabisch-islamischen Welt - den es offenkundig gibt und der eines der größten Hindernisse für einen Waffenstillstand im Nahen Osten darstellt -  ergründet. Es wird vor allem die antisemitische Propaganda der Nazis, die von Deutschland aus in die arabische Welt getragen wurde, untersucht. Über die von Matthias Küntzel vorgetragenen Thesen und Analysen kann im Anschluss selbstverständlich kritisch diskutiert werden.

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Die Massaker der Hamas vom 07.10.2023 markieren in der Geschichte des Antisemitismus und für die Entwicklung des Nahostkonflikts eine Zäsur. Mehr als 1.200 Israelis wurden niedergemetzelt, mehr als 200 als Geiseln entführt. Manche fühlten sich angesichts der antijüdischen Gräueltaten an das Vorgehen der Einsatzgruppen im Dritten Reich erinnert.

In der Tat steht der Antisemitismus der Hamas in der Tradition des nationalsozialistischen Vernichtungswillens. So hatte Nazi-Deutschland bereits in den Dreißigerjahren das judenfeindliche Potential des Koran entdeckt und für die eigenen Propaganda in der arabischen Welt instrumentalisiert. Von Zeesen, einem südlich von Berlin stationierten Kurzwellensender, wurde der islamische Antisemitismus gezielt unter Muslimen verbreitet. Die Radiosendungen wurde zwischen April 1939 bis April 1945 alltäglich auf Arabisch, aber auch auf Persisch und Türkisch ausgestrahlt. So, wie die Nazis in Europa den christlichen Antijudaismus radikalisierten, so nahmen sie im Nahen Osten den muslimischen Antijudaismus zur Grundlage, um ihn mit der europäischen antisemitischen Verschwörungstheorie zu verknüpfen.

In seinem Buch „Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand“ beleuchtet unser Redner dieses bislang ignorierte Kapitel deutscher Vergangenheit und zeigt auf Basis neuer Archivfunde, wie sich das Judenbild im Islam zwischen 1937 und 1948 unter dem Einfluss einer ausgefeilten arabischsprachigen Radiopropaganda und sonstiger Nazi-Aktivitäten veränderte.

Die Begegnung des Nahen Ostens mit der Nazi-Ideologie war zwar nur kurz, doch sie wirkt bis heute weiter nach. Denn während der Nazi-Antisemitismus überall sonst in der Welt diskreditiert war, konnte er sich in der arabischen Welt als Weltanschauung erhalten. Erst wenn wir begreifen, wie stark die moderne Nahostgeschichte von den Nachwirkungen des Nationalsozialismus geprägt ist, werden wir den Judenhass in dieser Region und dessen Echo unter Muslimen in Europa richtig deuten und adäquate Gegenmaßnahmen entwickeln können.

Dr. Matthias Küntzel ist Politikwissenschaftler und Historiker und Träger des „Theodor Lessing-Preis für aufklärerisches Denken und Handeln“ 2022. Von 2004 bis 2015 war Küntzel externer associate researcher beim Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism (SICSA) an der Hebrew University in Jerusalem. Viele seiner Bücher, zum Beispiel „Djihad und Judenhass“, Freiburg 2002; „Die Deutschen und der Iran“, Berlin 2009; und „Nazis und der Nahe Osten“, Leipzig 2019 wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Der Vortrag ist Teil der Veranstaltungsreihe "Auseinandersetzungen zur Gegenwart des Antisemitismus", die von einigen Dresdner Gruppen in kooperation durchgeführt wird. Weitere Informationen dazu: https://www.kosmotique.org/veranstaltungsreihe-auseinandersetzungen-mit-der-gegenwart-des-antisemitismus/

 

 

Antisemitismus - Ausdruck eines reaktionären Antikapitalismus

Ein Vortrag von Moritz Zeiler
Zeit: 15.02.2024 ab 19 Uhr
Ort: TU Dresden Campus - SCH/A118/H

Moishe Postones Aufsatz Antisemitismus und Nationalsozialismus umfasst zwar lediglich 30 Seiten, lieferte aber wichtigere Impulse für linke Debatten als unzählige Bücher und Studien. Postones Text bietet eine neue Interpretation von Antisemitismus, Antikapitalismus und Nationalsozialismus. Er kritisiert eine verbreitete linke Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft als simplen Ausdruck von Klassenherrschaft und Antikommunismus und betont die zentrale Rolle des Antisemitismus und der Vernichtung des europäischen Judentums für ein Verständnis des Nationalsozialismus. Antisemitismus interpretiert er im Kontrast zu verbreiteten linken Auffassungen nicht als Variante des Rassismus, sondern als Ausdruck eines reaktionären Antikapitalismus. Postones Thesen liefern wichtige Anregungen für eine kritische Analyse von Nationalsozialismus und Antisemitismus, aber auch von antiemanzipatorischen Formen des Antikapitalismus und eines Antisemitismus von links – sowohl historisch wie aktuell. Zur besseren Einordnung des Textes wird es kurze Exkurse zu folgenden Themen geben: Linke Faschismustheorien und Analysen des Nationalsozialismus; Antisemitismus und Antizionismus; Geschichte der Neuen Linken; Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx. Ergänzend werden Thesen aus Postones Aufsatz Geschichte und Ohnmacht. Massenmobilisierung und aktuelle Formen des Antikapitalismus vorgestellt, die sich kritisch mit Antiimperialismus und Internationalismus beschäftigen.

Moritz Zeiler hat Geschichte und Politikwissenschaften studiert und ist Mitglied der Gruppe associazione delle talpe. Veröffentlichungen: Das Klima des Kapitals. Gesellschaftliche Naturverhältnisse und Ökonomiekritik, Berlin 2022 (Herausgabe mit Valeria Bruschi), Materialistische Staatskritik. Eine Einführung, Stuttgart 2017 sowie zusammen mit associazione delle talpe Herausgabe der Textsammlungen Staatsfragen. Einführungen in die materialistische Staatskritik, Berlin 2009 sowie Maulwurfsarbeit I-VI, Berlin/Bremen 2010- 2022.

Der Vortrag ist Teil der Veranstaltungsreihe "Auseinandersetzungen zur Gegenwart des Antisemitismus", die von einigen Dresdner Gruppen in kooperation durchgeführt wird. Weitere Informationen dazu: https://www.kosmotique.org/veranstaltungsreihe-auseinandersetzungen-mit-der-gegenwart-des-antisemitismus/

 

Warum Krieg? Der Rußland-Ukraine-Krieg im Kontext der Globalisierung.

Ein Tagesseminar mit Gerhard Stapelfeldt 
Zeit: 02.12.2023 von 10 bis 17.30.
Ort: TU Dresden Campus - genauer Ort nach Anmeldung.

Anmeldung unter pob@stura.tu-dresden.de (kostenlos).

Der am 24.2.2022 begonnene Krieg Rußlands gegen die Ukraine vollzieht die Selbstzerstörung der neoliberalen New World Order (G. Bush 1990/91): der Globalisierung.
Da ein Krieg ein Verhältnis von Staaten zueinander ist, kann er nur aus dem Verhältnis von Staaten erklärt werden und nicht aus Entwicklungen nur eines Staates, schon gar nicht aus der psychischen Verfassung eines Präsidenten. Da dieser Krieg von Anbeginn mit der Drohung eines nuklear geführten Weltkriegs verbunden ist, verweist er auf die Ordnung der Weltgesellschaft: die Globalisierung.
Die Globalisierung ist der Zustand der Weltgesellschaft, der 1991 erreicht ist durch die Selbstauflösung der UdSSR. Nachdem die Erste Welt (OECD) durch die Krisen von 1971/81 und die Dritte sowie Vierte Welt durch die Schuldenkrise von 1975/82ff. zum Übergang von einer administrativ regulierten Ökonomie zur neoliberalen Wettbewerbs-Ökonomie übergegangen sind, sind die Nachfolgestaaten der UdSSR und deren im Warschauer Pakt und im RGW organisierte Verbündete um 1989/91 zur Transformation gezwungen: zum Übergang von einer staatssozialistischen zu einer neoliberalen, de-regulierten Politik-Ökonomie.
Dieser Fortschritt von Weltgesellschaft und Weltökonomie hat um 1990 die Illusion erzeugt, es breche eine Epoche universalen Friedens an, zu sichern nur durch die „neuen Kriege“: die Antiterror-Kriege. Dieser Fortschritt zeigt zugleich an, daß die USA als „Sieger“ (G. W. Bush 2002), die UdSSR als „Verlierer“ aus dem Kalten Krieg hervorgegangen sind. Der Fortschritt zeigt endlich an, daß die „Verlierer“-Staaten durch Transformationskrisen auf den Stand kapitalistischer Unterentwicklung gedrückt werden.
Diese Ordnung zerstört sich selbst. Das neoliberale Basis-Dogma, die Gesellschaft als Ganze sei das Irrationale, ist unbeweisbar und muß als „Glaube“ vorausgesetzt werden: als Dogma. Dadurch tendiert der Neoliberalismus zur Verallgemeinerung als Globalisierung: zu einer unipolaren Ordnung. Dadurch tendiert der Neoliberalismus zur Selbstzerstörung der Globalisierung, weil ein Dogma einen gesellschaftlichen „Konformismus“ im Inneren der Nationen, ein Freund-Feind-Verhältnis nach außen fordert. Die Globalisierung zerfällt in sich in die multipolare Ordnung von neoliberalen Gemeinschaften und Staatengruppen (BRICS-Staaten), die sich in einem latenten oder manifesten Kriegszustand befinden.
Die Nation, die als Verlierer im Kalten Krieg in die Neue Weltordnung eintrat, und die durch Transformationskrisen im Stand kapitalistischer Unterentwicklung verharrt, ist die Nation, die die Vollendung der Globalisierung eröffnete und die die Selbstzerstörung der Globalisierung durch einen „klassischen Staatenkrieg“ vollzieht.
Im Tagesseminar wird der Rußland-Ukraine-Krieg aus dieser Entstehungsgeschichte erklärt: der Selbstzerstörung der Globalisierung.
Der eine Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung Rußlands nach 1991: Transformationskrise, ökonomische Oligarchie, politische Autokratie, Anti-Terror-Kriege (‚neue Kriege’), Übergang zu den überwunden geglaubten Staatenkriegen.
Der andere Schwerpunkt liegt auf der Skizze der verschiedenen Aspekte des Krieges, der unmittelbaren Kriegsfolgen und der Aussicht auf die Weltordnung nach der Globalisierung.

 

Realismus der sozialen Form. Zum Problem der künstlerischen Darstellbarkeit des Kapitals

Ein Vortrag von Tobias Ertl am 09.11.2023 um 19 Uhr im Hörsaal ZEU/118/H.

Kunst, die beansprucht, soziale Wirklichkeit auf kritische Weise zur Darstellung zu bringen, wird seit dem 19. Jahrhundert realistisch genannt. Folgt man der Gesellschaftsanalyse, die Marx im Kapital entwickelt, ist realistische Kunst, die nicht bei der Wiedergabe der Erscheinung sozialer Phänomene stehen bleiben, sondern zum Wesenskern derselben vordringen möchte, mit einem Problem konfrontiert: Die bestimmenden Kategorien sozialer Vermittlung – Wert, Geld, abstrakte Arbeit – sind dem Bereich empirischer Anschaulichkeit, in dem die Künste operieren, von vornherein entzogen. Das gesellschaftliche Verhältnis des Kapitals lässt sich nicht anschaulich darstellen.

Ausgehend von dieser Problembeschreibung sollen in dem Vortrag Perspektiven einer künstlerischen Kapitalismuskritik skizziert werden, die ich unter dem Begriff eines Realismus der sozialen Form fassen möchte. Im Vortrag werde ich mich auf Beispiele aus der jüngeren Gegenwartskunst konzentrieren und insbesondere die Filme und Installationen der kanadischen Künstlerin Melanie Gilligan diskutieren. Zugleich soll in historischen Rückblicken schlaglichtartig deutlich gemacht werden, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Gesellschaftsform eng mit der Geschichte des kritischen Realismus sowie marxistischer Kunsttheorien im 20. Jahrhundert verbunden ist.

Hinweis: einige von Melanie Gilligans Filmen können auf ihrer Website www.films-against-capitalism.com angesehen werden.
 

Ästhetik des Widerstands nach Peter Weiss und G.W.F. Hegel

Ein Vortrag von Franziska Wildt am 02.11.2023 um 19 Uhr im Hörsaal ZEU/118/H. 

Der Vortrag entwickelt die Frage nach der gesellschaftstheoretischen Bedeutung der Ästhetik im Spannungsfeld von Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands und G.W.F. Hegels Vorlesungen über die Ästhetik.
Der Begriff “Ästhetik” ist für Hegel der schönen Kunst unangemessen, weil er suggeriert, es ginge hier bloß um Sinnliches. Die Kunst weist ihm zu Folge über dieses bloß den Sinnen Gegebene hinaus. Sie hat wie die Philosophie einen geistigen Gehalt. Anders als die Philosophie vermittelt sie diesen Gehalt jedoch durch sinnliche Ausdrucksmittel. Der Gegenstand der philosophischen Ästhetik ist also zugleich sinnlich und Negation des Sinnlichen. Hegel begreift diese widersprüchliche Form der Kunst als ihren Mangel gegenüber der Philosophie. — In diesem “Mangel” kann man jedoch auch einen Vorzug sehen: gerade weil die Kunst durch ihre Ausdrucksmittel auf die sinnlich-materielle Wirklichkeit der Gesellschaft verwiesen bleibt, ist sie für deren Kritik relevant. Ästhetik als Theorie der Kunst ist so zugleich als Gesellschaftskritik zu verstehen.
Doch in welchem Verhältnis steht die Ästhetik als Gesellschaftskritik zur Kunst? — Für Hegel hat die Ästhetik als philosophische Theorie der Kunst den “Mangel” ihres Gegenstands überwunden, weil ihr Denken keiner sinnlich-materiellen Vermittlung mehr bedarf. Diese Auffassung von Ästhetik impliziert jedoch eine “Anästhetisierung” des Denkens. Um dem kritischen Gehalt der Kunst gerecht zu werden, bedarf es entgegen einer solchen anästhetisierten Ästhetik einer “ästhetischen Theorie”, oder einer “Ästhetik des Widerstands”. — Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss wird als ein künstlerisches Gegenmodell zu Hegels Ästhetik diskutiert, die sich der Anästhetisierung der ästhetischen Form widersetzt.
 

Buchvorstellung “Für Hans-Jürgen Krahl. Beiträge zu seinem anitautoritären Marxismus" 

Eine Buchvorstellung mit Meike Gerber, Emanuel Kapfinger und Julian Volz am 30.10.2023 um 19 Uhr im HSZ 105/U.

Sich heute mit Hans-Jürgen Krahl auseinanderzusetzen, bedeutet die Annäherung an eine Person, um die sich viele Mythen ranken und deren Theorien dennoch zu großen Teilen vergessen wurden. Dabei gab es um 1968 wenige, die den Versuch einer »historisch angemessenen Vermittlung von Theorie und Praxis« derart intensiv betrieben haben wie er. Als einer der Theorieköpfe von ‘68 stellte er sich nicht nur entschieden gegen eine autoritäre Wende der Studierendenbewegung, sondern setzte ihr auch ein Modell antiautoritärer Emanzipation entgegen. Der Lieblingsschüler Adornos debattierte mit den Intellektuellen der sogenannten Frankfurter Schule auf Augenhöhe und arbeitete an einer eigenständigen Weiterentwicklung der Kritischen Theorie. Trotzdem – oder deswegen? – richteten sich nach Krahls frühem Tod mit 27 Jahren die verschiedensten Vorwürfe gegen ihn: eines repressiven Leninismus ebenso wie eines antiautoritären Spontaneismus; einer unredlichen Hinwendung der Kritischen Theorie zur Praxis ebenso wie eines praxisfernen Hegelianismus. Dies könnte erklären, warum sein Werk heute weitgehend ungelesen ist.

Der im Januar 2022 im mandelbaum Verlag erschienene Sammelband Für »Hans-Jürgen Krahl. Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus«, herausgegeben von Meike Gerber, Emanuel Kapfinger und Julian Volz, bringt nun erstmals aktuelle Auseinandersetzungen mit Krahls zentralen Themen in einem Buch zusammen. Die Referent*innen werden an dem Abend das Themenspektrum des Sammelbandes von Krahls Klassenanalyse über seine Auseinandersetzung mit Adorno, die Vermittlung von Theorie und Praxis bis hin zu seinen Ideen zur revolutionären Organisation aufzeigen. Zudem werden sie ihre Überlegungen vorstellen, warum die Auseinandersetzung mit Krahl für heute wichtig und fruchtbar ist.
 

Ringvorlesung: Schön sei das Wahre und das Schöne war. Ästhetik und Kritik in der gesellschaftlichen Totalität

Beginn: 05.04.2023, 19:00 Uhr
Ort: objekt klein a (Meschwitzstraße 9, 01099 Dresden)

Ästhetik wird gemeinhin als das Schöne verstanden, meint jedoch grundsätzlich die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung, der Sinnlichkeit überhaupt. Das Ästhetische wiederum verweist “im weitesten Sinne auf die sinnliche Erscheinung” (W.F. Haug) selbst. Das Schöne und das Hässliche, das Angenehme und das Unangenehme sind folglich ebenfalls ästhetische Kategorien. Dass diese Dinge nichts mit Gesellschaft und Politik zu tun haben, ist ein verbreiteter Trugschluss.
Ob in der Stadtplanung und Architektur die vermeintlich lebenswerte, schöne Stadt entworfen wird, oder uns in den Regalen von Supermärkten Verpackungen allein durch ihr Aussehen dazu verführen sollen, angepriesene Waren zu kaufen – unsere Sinne werden ständig affiziert. Die harmonisch aneinandergereihten Beats lassen die Menschen tanzen und die "richtige" Dramaturgie von Filmen lässt sie weinen – offenbar ist die sinnliche Wahrnehmung beinah überall, insbesondere jenseits des unmittelbaren Nutzens, von großer Bedeutung.
Und während in unserer Alltagswelt die Dinge so designt werden, dass sie zwischen Versprechen und Massenbetrug pendeln, soll Kunst aus den Museen ausbrechen. Ihr wird aufgetragen – zum Beispiel durch mitunter obskur anmutende Performances mit politischem Anstrich – endlich gesellschaftliche Relevanz zu erlangen. Das geht soweit, dass sie von bloßer Politik kaum zu unterscheiden ist, bedient sich letztere doch selbst zunehmend ästhetischer Praktiken.
Angesichts der “Jagd” nach den Sinnen der Massen, selbst bis in die kleinsten kulturellen Nischen hinein, muss gefragt werden, welcher Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Sinnlichkeit besteht. Möglich werden kann das, indem der negativ im Spannungsfeld von Begriff und Sache der Ästhetik liegenden Wahrheit durch Kritik nachgegangen wird. Heute ist die reale, ebenso wie die virtuelle, Umwelt, in großen Teilen von der Warenästhetik gezeichnet, während Kunst und Kultur von Popstars dominiert werden. Es gilt deshalb, sich dem Problemfeld zwischen Wahrheitsmoment von Kunst und Werk in aktuellen ästhetischen Erscheinungen und deren Ideologie zu stellen. Womöglich lässt sich das Sinnliche theoretisch noch fassen, indem man fragt: Warum werden in dieser Gesellschaft den Dingen genau die uns erscheinenden ästhetischen Formen gegeben? So könnte man vielleicht auch negativ der Frage näher kommen, die schon Aristoteles stellte: Warum wird das schöne, gute und wahre Leben nicht verwirklicht?
Eine Annäherung an diese und weitere Fragen wird das Ziel unserer Ringvorlesung sein, welche gesellschaftskritische Aspekte von Ästhetik versammelt.

Die Ringvorlesung beginnt am 05. April 2023 und wird immer mittwochs 19:00 Uhr im objekt klein a stattfinden. Es wird die Möglichkeit geben, im Rahmen des Studium Generale verschiedene Scheine zu bekommen.

Informationen für das studium generale: Wer einen Sitzschein erhalten möchte, muss an 80 Prozent der Veranstaltungen teilgenommen haben. Um das nachzuweisen bringt bitte zu allen Veranstaltungen ein Papier (formlos) mit, auf welchem ihr euren Namen und den Inhalt (Teilnahme an RV Schön sei das Wahre und das Schöne war) vermerkt habt. Darauf sind dann die jeweiligen Daten tabellarisch zu vermerken und wir unterschreiben am jeweiligen Datum bei Anwesenheit.

Konkrete Informationen für die Klausur folgen in Kürze. Bis dahin wurde dazu bereits einiges in der Einführungsveranstaltung gesagt, die ihr euch online anhören könnt.

 

Einzelveranstaltungen:

05.04.2023
Referat Politische Bildung:
Einführung.
Ästhetik und Kritik in der gesellschaftlichen Totalität

Hier kann der Input gehört werden.

Die Einführung durch das Referat Politische Bildung soll der ersten Annäherung an die Fragen, welchen wir uns in diesem Semester widmen werden, dienen. Zudem werden wichtige Informationen für organisatorische Zwecke (studium generale etc.) bereitgestellt.
Im inhaltlichen Part werden wir zum einen das Konzept und die Ideen, theoretischen und praktischen Probleme, welche uns zur Ringvorlesung führten, vorstellen. Dadurch soll ein möglichst nachvollziehbarer Einsteig in unser diesjähriges Programm ermöglicht werden. Insbesondere wollen wir dabei anhand der Reihe umreißen, inwiefern Kritik, Ästhetik und Gesellschaft zusammengedacht werden und was für uns bisher daraus folgte (siehe Ankündigungstext der RV). Weiterhin sollen die konkret geplanten Veranstaltungen eingeführt und deren Zusammenhang im genannten Sinne kurz erläutert werden. Danach wird noch reichlich Zeit für Diskussion, Fragen, Anmerkungen und das ein oder andere Getränk sein.

Literatur:
Klasen, Isabelle (2015): "Erfahrung wider das Ich". Überlegungen zu einem Begriff des Schönen nach Adorno. In: Devi Dumbadze und Christoph Hesse (Hg.): Unreglementierte Erfahrung. Freiburg: ça ira, S. 143–174
Hindrichs, Gunnar (2000): Scheitern als Rettung. Ästhetische Erfahrung nach Adorno. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (74), S. 146–175.
Haug, Wolfgang Fritz (2009): Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 25-31; 72-88
Duckheim, Simon; Braunstein, Dirk (2016): Für immer beerdigt und ewig blamiert. Aspekte einer materialistischen Ästhetik „verrückter Kunst“. In: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 3, H. 2., S. 300–318
Duckheim, Simon (2012): Reklame für die Welt, wie sie ist. Kulturindustrie und identifizierendes Denken. In: D. Braunstein, S. Dittmann und I. Klasen (Hg.): Alles falsch. Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie, Berlin: Verbrecher Verlag, S. 65–110
Adorno, Theodor W. (2003): Ästhetische Theorie. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Gesammelte Schriften Bd. 7), u.a. S. 9-30; 334-347

Themenblock 1: Begriffliche Einführung

12.04.2023
Maxi Berger:
Entgrenzung der Künste und Ideologie

Hier kann der Vortrag gehört werden.

Schaut man sich in den aktuellen Debatten innerhalb der ästhetischen Theorien um, dann scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass es „die Kunst“ im traditionellen Sinne nicht mehr gibt. Und tatsächlich haben sich die Themen und Gestaltungsweisen dessen, was nicht mehr Kunst ist, vervielfältigt und vermengen sich bis zur Unkenntlichkeit mit Problemen und Stellungnahmen des Alltags. Das wird nicht erst mit der letzten Documenta deutlich, sondern schon durch die Readymades zu Beginn des 20 Jh. thematisch.
Andererseits versammeln sich aber unter dem Titel Kunst dennoch bis heute auch spezifische Artefakte und Produktionen, die sich ebenso wenig ohne ästhetische Kategorien beschreiben lassen. Angefangen bei gestalterischen Problemen im Design bis hin zu partizipativen Projekten gibt es Momente, die auf die Kunst (zurück-)verweisen.
In diesem Vortrag soll deshalb danach gefragt werden, wie der traditionelle Kunstbegriff aus Sicht der ästhetischen Theorie bestimmt war und warum er sich nicht bruchlos auf Phänomene heutiger Kunst übertragen lässt. Und es soll gefragt werden, was dennoch bis heute das Spezifische der Kunst ist, wie sich Phänomene der Kunst von anderen Phänomenen unterscheiden, oder vorsichtiger: ob sie sich unterscheiden lassen.

19.04.2023
Susanne Kogler:
Auf den Spuren eines klingenden Materialismus: Musik und Gesellschaft nach Theodor W. Adorno

Hier kann der Vortrag gehört werden.

Ziel des Vortrags ist es, auf Basis der musikalischen Schriften Adornos Beispiele zu diskutieren, die bestimmte Aspekte der Bezüge zwischen Gesellschaft und Kunst anhand der Musik erhellen können. Dabei werden wir im 18. Jahrhundert mit Mozart beginnen, mit Bizet und Wagner ins 19. und mit Richard Strauss und Anton Webern ins 20. Jahrhundert kommen und - Adorno weiterdenkend - bis in die Gegenwart fortschreiten. Für das 21. Jahrhundert werden aktuelle Stücke von österreichischen Komponistinnen - Pia Palme und Elisabeth Harnik herangezogen. Adornos Theorie wird dabei in spezifischer Weise einen materialistischen Hintergrund bilden bzw. es wird zu erläutern sein, inwieweit sein Vorgehen als aktuelle materialistische Ästhetik angesehen werden kann.
 

Themenblock 2: Ästhetik und Gesellschaftskritik

26.04.2023
Christoph Hesse:
Kulturindustrie, das sind wir alle

Hier kann der Vortrag gehört werden.

Kaum ein Begriff der Kritischen Theorie fand so weite Verbreitung wie der der Kulturindustrie, den Horkheimer und Adorno in der im kalifornischen Exil entstandenen Dialektik der Aufklärung (1947) geprägt hatten. Als er seit den 1960er Jahren auch in Westdeutschland von sich reden machte – in der DDR wurde jenes Buch erst kurz vor Ladenschluss 1989 publiziert –, war er von vornherein dem Missverständnis ausgesetzt, bei der Kulturindustrie handle es sich um ein amerikanisches Exportprodukt und bei den weniger erfolgreichen heimischen Künstlern womöglich um Opfer des Imperialismus. Andere meinten bald, der Begriff Kulturindustrie sei überhaupt wenig geeignet, ein Phänomen zu begreifen, das sie lieber als Populärkultur bezeichneten und von etwas wie Kunst nicht einmal mehr unterscheiden wollten. In der Tat kommt er einem heute merkwürdig altmodisch vor. Man denkt dabei eher an den tadellos gekleideten Patriarchen eines Filmstudios als an einen Burschen im Kapuzenpulli, der aber längst sehr viel reicher und einflussreicher ist als je ein Hollywood-Magnat. Als polemische Metapher verfängt der Ausdruck Kulturindustrie nicht mehr so recht: Kultur allein schon klingt heute mehr nach Bürokratie als nach Beethoven und Goethe, und in der Industrie ist hierzulande weniger als ein Viertel aller Erwerbstätigen noch beschäftigt. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Begriff darum obsolet wäre. In der Kulturindustrie, wie immer man sie nun nennen mag, herrscht Vollbeschäftigung, was vor allem daran liegt, dass an ihr auch all diejenigen mitarbeiten, die dafür nicht bezahlt werden, sondern sogar selbst zahlen. Wir alle nämlich.
In der Vorlesung soll es sowohl um den Begriff Kulturindustrie im Zusammenhang der Kritischen Theorie als auch um die Geschichte des Phänomens gehen, das vormals Massenkultur und schließlich Populärkultur genannt wurde. „Der totale Zusammenhang der Kulturindustrie, der nichts ausläßt“ (Adorno), wird vielleicht umso besser erkennbar, wenn der Schein grenzenloser Vielfalt ebenso total geworden ist.

Christoph Hesse ist Film-/Literaturwissenschaftler und Übersetzer, Mitarbeiter des Instituts für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der FU Berlin, Mitherausgeber der Werke des Schriftstellers Hermann Borchardt (zwei von fünf Bänden im Göttinger Wallstein Verlag bereits erschienen). Buchveröffentlichungen u.a.: Schiffbruch beim Spagat. Wirres aus Geist und Gesellschaft (2022, mit Dirk Braunstein), Filmexil Sowjetunion (2017), Unreglementierte Erfahrung (2015, hg. mit Devi Dumbadze); Briefe an Bertolt Brecht im Exil (2014, hg. mit Hermann Haarmann); Filmform und Fetisch (2006).

Literatur:
Adorno Theodor W., Horkheimer Max (1947):Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: Dialektik der Aufklärung. philosophische Fragmente : Frankfurt am Main
Adorno, Theodor W. (1963): Résumé über Kulturindustrie. In: Ders.: Kulturkritik und
Gesellschaft I. Gesammelte Schriften Bd. 10.1. Frankfurt a. M.
Duckheim, Simon (2012): Reklame für die Welt, wie sie ist. Kulturindustrie und identifizierendes Denken. In: D. Braunstein, S. Dittmann und I. Klasen (Hg.): Alles falsch. Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie, Berlin: Verbrecher Verlag, S. 65–110


03.05.2023
Roger Behrens:
Das Unvermögen der Realität.
Kritische Theorie, Kunst, Kulturindustrie

Hier kann der Vortrag gehört werden.


Dem Ende der Kunst, das Hegel proklamierte, folgte eineinhalb Jahrhunderte später ein Ende der Ästhetik (so etwa Werckmeisters Deutung von Adornos ›Ästhetischer Theorie‹); beides sind Enden, die keineswegs ein Verschwinden von Kunst und Ästhetik meinen (was immer das auch wäre), sondern vielmehr eine Übersteigerung von Kunst und Ästhetik, die in einem sozialen Sinnverlust, etwa in Banalisierung und Belanglosigkeit ihren Ausdruck findet; »Entkunstung der Kunst« (Adorno) und »Ästhetisierung der Politik« (Benjamin) sind dabei verkoppelt miteinander beziehungsweise mit der – wenn man so will – ästhetischen Ambivalenz des sozialen Status der Kunst: in Hinblick auf die Verschränkung von Wertvergesellschaftung und Ideologie. In der Kritik der Kulturindustrie wurde das begriffen als Kommodifizierung (Zur-Ware-Werden). Das jedenfalls ist der Befund einer kritischen Theorie der Gesellschaft (deren Arbeitszusammenhang sich vor einhundert Jahren konstituierte).
Dagegen steht eine merkwürdige Rezeption und »Weiterentwicklung« dieses Befunds einer längst in all ihren Facetten akademisch eingehegten Kritischen Theorie und ihrer über die Fachrichtungen und Forschungsperspektiven verstreuten Derivate (ein bisschen Adorno schadet nie, auch wenn er vom Jazz keine Ahnung hatte): Behauptet wird hier weiterhin die sachliche Differenz von Kunst und Kulturindustrie, ohne auch nur die Grundfragen kritischer Gesellschaftstheorie überhaupt zu stellen, geschweige denn – wenigstens versuchsweise – zu beantworten. Drittmittelprojekte und die eigene (prekäre) Situation im Wissenschaftsbetrieb lassen das auch kaum zu, die Berufsstandswahrung geht vor.
Dazu wären allerdings einfache Fragen zu stellen: Was wollten wir eigentlich von der Kunst, und was wollen wir heute von ihr? Welche Bedeutung hat dabei die Ästhetik – für uns? Wie steht es um die »Kulturindustrie« – und wer sind eigentlich »wir«? – Und wieso heißt der Vortrag ›Das Unvermögen der Realität‹?


10.05.2023
Sonja Witte:
Ware Bilder – Zum Unheimlichen des Unbewussten in der Kulturindustrie

Hier kann der Vortrag gehört werden.

Mit dem Begriff „Kulturindustrie“ sind in der Kritischen Theorie Adornos verschiedene Überlegungen zu kulturellen Prozessen und Phänomen im Kapitalismus verbunden. Dabei geht es u.a. um die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Prinzip der Warenförmigkeit in medialen Techniken und Ästhetiken sowie deren Rezeption wirksam ist. Hieran anknüpfend nimmt der Vortrag insbesondere unbewusste Aspekte der Beziehung zwischen Bildern und Subjekten in den Blick – und zwar ausgehend von Freuds Theorie des Unheimlichen. Entlang von Filmmaterial (u.a. aus „Die fabelhafte Welt der Amélie“; F 2001, P. Jeunet) wird der Annahme gefolgt, dass das Unheimliche ein Bereich ist, in dem konflikthafte Konstellationen kulturindustrieller Prozesse für Subjekte in Erscheinung treten können. Im Unheimlichen – so lautet die These – kommen poröse Momente kultureller Vergesellschaftungsprozesse zum Vorschein, in denen sich Ambivalenzen von Schrecken und Lust der Warenförmigkeit geltend machen.

Sonja Witte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im MA-Studiengang Kulturwissenschaften – Psychoanalyse und Kultur an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin sowie als freiberufliche Referentin und Lehrbeauftragte u.a. an der Universität Bielefeld tätig. Sie promovierte an der Universität Bremen, die Dissertationsschrift „Symptome der Kulturindustrie – Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material“ ist 2018 im transcript-Verlag erschienen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Psychoanalytischer Subjekt-, Medien- und Kulturtheorie, Kritischer Theorie und Sexualitäts- und Geschlechterforschung.

Literatur:
Witte, Sonja 2018 Symptome der Kulturindustrie – Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material. Bielefeld.
Gast, Lilli 2011 Das Unheimliche der Ambivalenz. In: Forum für Psychoanalyse, Nr. 27/4, 2011, S. 349–358.
Freud, Sigmund 1919h Das Unheimliche. GW XII, S. 229–268. Frankfurt am Main 1999.
Adorno, Theodor W. 1969b Komposition für deHie

 

17.05.2023
Franz Heilgendorff: Das Schicksal der Sinnlichkeit unter spätkapitalistischen Bedingungen.
Hier kann der Vortrag gehört werden.

 

Wenn hier vom Schicksal der Sinnlichkeit gesprochen wird, soll dies auf das sinnliche Erkenntnisvermögen verweisen und als dieses wird im Vortrag Ästhetik aufgefasst werden. Marx folgend bedeutet Sinnlichkeit die Fähigkeit, die Umwelt in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse zu erfahren. Ein nichtrepressive Form vorausgesetzt sind so Empfindung und Erkenntnis verbunden, wie es sich in den klassischen ästhetischen Kategorien des Wahren, Schönen und Guten abzeichnete.
Diese Doppelstruktur sinnlichen Erkenntnisvermögens verweist mittels der Empfindung als Lust oder Unlust auf die psychische Disposition und Bedürfnisstruktur des Einzelnen; die Wahrnehmung als erkenntnistheoretisches Moment auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Beides wird in der kritischen Theorie gesellschaftlich vorstrukturiert gedacht, denn der sinnliche Bezug auf die Gegenstände ist nicht , wie noch bei Kant vermittels der Anschauungsformen von Raum und Zeit, von aller Geschichte abgetrennt. An ihre Stelle rückt die Totalität von Gesellschaft, in der sich die Formbestimmung der Dinge vollzieht. Die kantsche Überlegung, dass wir von den Dingen nur das erkennen, was wir selbst in sie hineinlegen, erhält so eine völlig neue Bedeutung und die Frage der Gegenstandskonstitution wird zum Kern einer kritischen Theorie der Gesellschaft.

Exemplarisch vollzogen wird diese Denkbewegung am Begriff der Warenästhetik, dem der Vortrag gewidmet ist. Auf den ersten Blick um Probleme der Ästhetik und Psychologie kreisend, zielt er auf die materielle Basis der Herrschaft des Kapitals, denn die Ware löst ein doppeltes Realisationsproblem: In ihrem ästhetischen Gebrauchswertversprechen, dass der Realisierung der Kapitalverwertung dient (1), knüpft die Ware an die psychologische Verfasstheit der Einzelnen an und stellt eine Bewegungsform ihrer Wünsche, Träume und Bedürfnisse dar (2). Mittels der Warenwelt entsteht eine neue organisatorische Qualität, in der sich der repressive kapitalistische Produktionsprozess mit Begriffen der Bedürfnisbefriedigung verbindet, andererseits aber auch verdrängten und unbewussten Bedürfnissen eine Ausdrucksform gibt. Was zuvor nur der Kunst vorbehalten war, die Wirklichkeit in freiem Spiel umzugestalten, spiegelt sich so ideologisch in der sogenannten Ästhetisierung der Lebenswelt.

Zugleich zeichnet sich jedoch in den multiplen Krisen der Gegenwart und des Subjekts ab, dass diese Form der Bedürfnisbefriedigung repressiv, Vehikel des kapitalistischen Produktionsprozesses bleibt. Kritische Theorie orientiert dagegen im Ringen um das schöne, gute und wahre Leben auf Prozesse kollektiver Selbstorganisation, in der die Wahrnehmung von Bedürfnissen die Fähigkeit schafft, politische Phantasie außerhalb bestehender gesellschaftlicher Kategorien zu entwickeln.

Literatur:
Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte vom Jahre 1844, Reclam Verlag, 1988
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1 (=MEW 23)
Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Suhrkamp 2009
Hans Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Verlag Neue Kritik, 2008 (1971)
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, zu Klampen (2014)


24.05.2023
Aljoscha Bijlsma:
Einstand des Sinnlosen.
Zu Theodor W. Adornos Ästhetik nach Auschwitz
Hier kann der Vortrag gehört werden.

 

Kunst ist für Theodor W. Adorno die gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft. Antithesis, weil sie autonom, zugleich gesellschaftlich, weil sie fait social ist. Gesellschaft teilt also ohne Unterlass der Zone der Autonomie der Kunst sich mit. Die Ästhetische Theorie Adornos kann mitsamt den musikalischen und literarischen Schriften als eine Auseinandersetzung mit dieser Antinomie begriffen werden.
Was schon vor dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) eine nicht aufzulösende Antinomie darstellte, radikalisierte sich durch die Erfahrung, dass Auschwitz möglich war und weiterhin möglich ist, zu einer radikalen Infragestellung der Daseinsberechtigung von Kunst. Wir Heutigen haben uns längst daran gewöhnt, in postnazistischen Zeiten zu leben. Der Satz Adornos, nach dem es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben – 1949 gegen die wieder auferstandene Kultur formuliert – provoziert deshalb noch immer, weil er ungeschminkt den Schock transportiert, der mit Auschwitz als historischer Erfahrung verbunden ist. In späteren Arbeiten wird die Erfahrung jenes Schocks noch radikalisiert: Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll, heißt es in der Negativen Dialektik.
Die Versuchung ist groß, angesichts dieser ausweglosen Konstellation in Schweigen zu verfallen. Dies gilt für die Kritik ebenso wie für die Kunst. Gäbe man der Versuchung nach, machte man sich aber erst recht zum Komplizen der Verhältnisse. Für den Bereich der Kunst hieße Schweigen, der alles absorbierenden Kulturindustrie das Feld zu überlassen. Das Diktum, Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, sei barbarisch, muss also ergänzt werden: Man muss Gedichte schreiben, solange es ein Bewusstsein des Leidens unter den Menschen gibt, und zwar als objektive Gestalt dieses Bewusstseins. Diese Gestalt aber kann keine mehr sein, die aus ihrer konkreten Zusammensetzung den Schein von Sinn erzeugt, sondern die Negation von Sinn wird in der Ästhetischen Theorie Adornos zur aporetischen Gestalt von Kunst. Die sinnlosen oder sinnfremden Werke werden mehr als bloß sinnlos, weil ihnen Gehalt in der Negation von Sinn zuwächst.

Aljoscha Bijlsma ist Redaktionsmitglied der ideologiekritischen Zeitschrift sans phrase. Veröffentlichungen zur Musikphilosophie, Ästhetischen Theorie und zur Kritik der politischen Ökonomie.

Der Vortrag ist zudem Teil der Veranstaltungsreihe "Auseinandersetzungen zur Gegenwart des Antisemitismus", die von einigen Dresdner Gruppen in Kooperation organisiert wird.

Literatur:
Theodor W. Adorno: Das Kapitel „Stimmigkeit und Sinn“ aus der Ästhetischen Theorie (Gesammelte Schriften 7), 205–244.
Theodor W. Adorno: „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: Prismen (Gesammelte Schriften 10/1), 11–30.
Theodor W. Adorno: Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), herausgegeben von Rolf Tiedemann (Nachgelassene Schriften IV/14), Frankfurt a. M. 1998, insbesondere die 14. Vorlesung „Zur Liquidation des Ichs“ (161ff.).
Weiterführend: Gerhard Scheit: Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno, Freiburg 2011, 164–192.
 

Exkurs

26.05.2023

Podium:
Ästhetik - Gesellschaft - Kritik.
Gegenstand, Möglichkeit und Interesse ästhetischer Theorie heute
Ort: Blaue Fabrik, Eisenbahnstraße 1, 01097 Dresden
 
Maria Muhle konnte leider nicht teilnehmen.
 
Kunst scheint heute nicht nur angesichts ihrer zunehmenden Heteronomie sondern ebenfalls in Anbetracht der Veränderung ihrer Produktionsbedingungen, kaum mehr den Anforderungen zu entsprechen, welche einstmals an die ernste Kunst gestellt wurden. Die arbeitsteilige Produktion der, nunmehr für die – mitunter politische - Vermarktung produzierten, Kunstwaren führt die Rede des im Kunstwerk vergegenständlichten subjektiven Geistes ad absurdum. Ästhetische Formen scheinen in den durch die kulturindustrielle Lehre erprobten Hör- und Sehgewohnheiten der Sozialatome ständig wiederzukehren, sich in Museum, Kino und Werbung zu wiederholen. Im Kunstwerk wird die Aura vergangenen Glanzes gesucht, die doch vermittelt von der – dennoch Emanzipation ermöglichenden – technischen Reproduktion, welche dieses der popkulturell gebildeten Rezipientin erst bekannt machte, nicht mehr anders denn als Kitsch zu erfahren ist. Angesichts dieser Lage der Kunst und des Ästhetischen, welche zwar noch kleine Ausblicke gewährt – die Möglichkeit auf Anderes zum Beispiel im Unheimlichen von Kunst und Kulturindustrie zu suchen – scheint es kaum mehr möglich, noch weniger nötig, Ästhetik nach ihren gesellschaftskritischen Möglichkeiten zu befragen. 
 
Allerdings ergeben sich aus diesen Beobachtungen, ihrer Reflexion und Kritik, Erkenntnisse über die Probleme wie die Begriffsstutzigkeit einer bewusstlosen Gesellschaft, welche über sich selbst aufzuklären ist. Ausgehend vom Gegenstand der Ästhetik muss deshalb danach gefragt werden, wie sich das Verhältnis von Kunst und ästhetischer Theorie heute darstellt. Es soll zudem darauf aufbauend die Frage gestellt werden, inwiefern heute die Grenzen ästhetischer Kritik zu bestimmen sind, da ästhetische Formen, nicht nur die objektiv kitschigen, längst ein bewusstloses Eigenleben führen, welches die Käufer und Wähler affiziert und die Unvernunft dieser Gesellschaft auch auf sinnlich-äshtetischer Ebene vollends zu realisieren scheinen. 
 
So wird es in der Podiumsdiskussion zunächst zwei einführende Inputs von Maria Muhle und Claus-Steffen Mahnkopf geben. Sie werden sich damit auseinandersetzen, inwiefern es für die Theorie möglich oder überhaupt nötig ist, die Begriffe Kunst und Ästhetik zu bestimmen, um daraufhin das heutige Verhältnis beider Entitäten zueinander zu hinterfragen. Aus den Ergebnissen dieser Frage nach dem Verhältnis schließlich entwickeln sie Schlussfolgerungen, welche die Möglichkeiten gesellschaftskritischer Ästhetik in den Blick nehmen, während sie zugleich dem Anliegen ästhetischer Theorie angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse nachgehen. 
Die anschließende Diskussion wird von Giovanna Caruso moderiert und soll die in den Vorträgen bereits eingeführten Fragen insbesondere in Hinsicht auf die Notwendigkeit ästhetischer Kritik fortführen und konkretisieren.
 
Die Veranstaltung findet in der Blauen Fabrik (Eisenbahnstraße 1, 01097 Dresden) statt – bei gutem Wetter im Außenbereich. Es wird, wie sonst auch, die Möglichkeit geben, Getränke zu erwerben.
 

Themenblock 3: Ästhetische Politik und politische Kunst

07.06.2023
Jakob Hayner:
Entzauberte und wiederverzauberte Welt.
Zur Wiederkehr der Romantik in Zeiten der Kulturindustrie

Der „kapitalistische Realismus“ der Kulturindustrie wird seit jeher von einem romantischen Double begleitet. Die Romantik fordert die Wiederverzauberung der entzauberten Welt, oftmals in der Gestalt eines „ästhetischen Fundamentalismus“. Georg Lukács sprach von einem „romantischen Antikapitalismus“ als Vorzeichen von ästhetischer und politischer Regression. Der Vortrag wird diskutieren, was unter Romantik in der Moderne zu verstehen ist und wie sie sich zur Kulturindustrie verhält. Die These ist, dass der „ästhetische Kapitalismus“ auf Romantik nicht verzichten kann und dass das romantische Unbehagen an der Einrichtung der Welt zur Verklärung statt Aufklärung neigt. Das wird einerseits historisch rekonstruiert, andererseits anhand aktueller Beispiele wie die Documenta erläutert. Zuletzt soll gezeigt werden, auf welche gesellschaftlichen Voraussetzungen die ungebrochene und widersprüchliche Faszination der Romantik basiert.
 

14.06.2023
Michael Hirsch:
Ästhetisierung der Politik – Politisierung der Kunst.
Ästhetik und Politik im Spätkapitalismus

Der Vortrag versucht eine geschichtliche Rekonstruktion der Spannung von Kunst und Politik von Kant und Schiller über die kritisch-materialistischen Theorien von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno bis zur Gegenwart. Ausgehend von der Definition von Ästhetik als emphatische, durchaus gesellschaftskritisch gemeinte Wahrheit eines zweckfreien Bereichs des schönen Scheins bei Schiller und Kant sollen die Begriffe Kunstautonomie, (rechte) Ästhetisierung von Politik und (linke) Politisierung der Kunst anhand historischer Beispiele anschaulich gemacht werden. Für fortschrittliches Denken und ästhetische Bildung der Zukunft wesentlich ist dabei die Erkenntnis des widersprüchlichen Zusammenhangs von radikaler Aufklärung und Deutschem Idealismus auf der einen, kritisch-materialistischer Theorie und sozialen Bewegungen auf der anderen Seite. Stellen doch erstere ein großartiges Versprechen der sinnlichen wie geistigen Entfaltung der Erfahrungspotentiale des Menschen dar – letzteres hingegen die kritische Erkenntnis der entfremdeten Existenzbedingungen in der kapitalistischen Lohnarbeitsgesellschaft, die die Erfüllung dieses Versprechens den meisten bis heute vorenthält.

PD Dr. phil. Michael Hirsch ist Philosoph, Politikwissenschaftler und Kunsttheoretiker. Er lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen und lebt als freier Autor und Dozent in München. Jüngere Publikationen waren: Kulturarbeit. Progressive Desillusionierung und professionelle Amateure (2022); Richtig falsch. Es gibt ein richtiges Leben im falschen (2019); Logik der Unterscheidung. 10 Thesen zu Kunst und Politik (2015)
 

Literatur:
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935), Berlin: Suhrkamp 2022.
Hirsch, Michael. Logik der Unterscheidung - Zehn Thesen zu Kunst und Politik. Hamburg: Textem 2015.
Hirsch, Michael: Souveräne Melancholie - Annie Ernaux, der Hypermarché und wir. SWR 2020. 
https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/souveraene-melancholie-swr2-essay-2020-05-11-108.html
Hirsch, Michael. "Die Welt noch einmal." Utopien ästhetischer Erfahrung jenseits politisierter Kunst. Becker/Hagen/von Samson (Hgg.). Ästhetik nach Adorno. Positionen zur Gegenwartskunst. Berlin: Verbrecher 2022. 27-48.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1790), Werkausgabe Bd. X, Frankfurt am Main 1974.
Liessmann, Konrad Paul: Philosophie der modernen Kunst. Eine Einführung, UTB 1999
Rancière, Jacques. Die Aufteilung des Sinnlichen: Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Maria Muhle (Hrsg.) POLYpen 2006.
Schiller, Friedrich. Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), Stuttgart: Reclam 2000.
 

Themenblock 4: Kritische Ästhetik am "Werk"

21.06.2023
Sven Kramer

Ingeborg Bachmanns »Buch Franza«: Gewaltverhältnisse und Subjektkonstitution

In ihrem »Todesarten«-Projekt geht Bachmann alltäglichen Gewaltverhältnissen nach. Das Romanfragment »Das Buch Franza«, das in diesen Zusammenhang gehört, thematisiert weiterhin bestehende autoritäre Strukturen aus der Zeit des Nationalsozialismus, gewalthaltige Geschlechterverhältnisse und asymmetrische Strukturen zwischen Menschen aus Europa und Nordafrika. Für die einhergehenden komplexen Überlagerungen erschreibt sich Bachmann eine literarische Form, die sie aber später wieder verwirft. Der Vortrag rekonstruiert neben den unterschiedlichen Gewaltverhältnissen vor allem die Schreibweise Bachmanns und geht auch auf die Rezeption des Textes ein.

Literatur:

Bachmann, Ingeborg: »Todesarten«-Projekt, unter der Leitung von Robert Pichl hg. v. Monika Albrecht und Dirk Göttsche, 4 Bde., München und Zürich: Piper, 1995, Bd. 2: Das Buch Franza.
Albrecht, Monika: »Sire, this village is yours«. Ingeborg Bachmanns Romanfragment »Das Buch Franza« aus postkolonialer Sicht, in: Monika Albrecht und Dirk Göttsche (Hg.): Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns, Bd. 3, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 159-169.
Lennox, Sara: »White Ladies« und »Dark Continents«. Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt aus postkolonialer Sicht, in: Monika Albrecht und Dirk Göttsche (Hg.): Über die Zeit schreiben. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt, Würzburg 1998, S. 13-31.
Uerlings, Herbert: »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur, Köln u. a. 2006, S. 116-177.


 

28.06.2023
Niels-Christian Fritsche:
Steine, Geister und Ideen –
Wer hat wen im Griff?
Die Baukunst uns oder wir sie?

Was unterscheidet Bauen von Baukunst („Architektur“)? Uns fallen sofort hässliche Häuser ein. Was aber ist gebaute Schönheit? Können wir uns allgemeinverständlich, eigeninteressenfrei sowie vorbildungsunabhängig über Baukunst unterhalten, oder sollten wir nicht über Geschmäcker streiten?
Ausgehend vom Dreieck aus Schönheit, Richtigkeit und Gerechtigkeit spreche ich über die Totalität unserer Existenz, die (Un-)Möglichkeit des Beschreibens von Raum, über Besitz und Eigentum sowie Luft-, Wasser- und Bodenrecht. Wie funktioniert die Baukaskade von Lagerfeuer, Trampelpfad, Hütte, Garten, Haus und Straße in Dorf, Stadt und Landschaft? Fragen wir uns zusammen: Müssen Bauformen und Nutzungen etwas miteinander zu tun haben? Wie verwirbeln sich Kunst, Handwerk und Technik? Helfen uns Beispiele und Bilder beim Diskutieren über gebaute Schönheit oder erschweren sie das Verallgemeinern? Wir reden über das gute Alte, Neuigkeitsdoktrinen sowie Ideologien von Glas- und Steinarchitekt:innen. Darf Baukunst überall gleich aussehen oder werden damit Orts- und Zeitbezüge vernachlässigt? (Wie) rettet uns Landschaftsbaukunst („Landschaftsarchitektur“) im menschengemachten Klimawandel?
Zurück zum Dreieck aus Schönheit, Richtigkeit und Gerechtigkeit: Fragen wir uns allgemein und an Ihren Baukunst-Beispielen: Wer entwirft, wer zahlt, wer profitiert, wer freut sich, wer wird nicht gefragt und wer leidet?

Leseempfehlungen:
de Botton. Alain: Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2008.
Bohning, Ingo: „Autonome Architektur“ und „partizipatorisches Bauen“. Zwei Architekturkonzepte. Basel: Birkhäuser, 1981.
Maak, Niklas: Wohnkomplex. Warum wir andere Häuser brauchen. München: Hanser, 2014.
Schoper, Tom: Zur Identität von Architektur. Vier zentrale Konzeptionen architektonischer Gestaltung. Bielefeld: transcript, 2010.
Valéry, Paul: Eupalinos oder Über die Architektur 1923. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973.
Venturi, Robert: Komplexität und Widerspruch in der Architektur 1966. Braunschweig: Vieweg & Sohn, 1978.

05.07.2023
Mario C.Schmidt
Let’s analyze! – Aufklärung als Massenbetrug


Kulturindustrie ist ein gesellschaftliches Phänomen. Adorno und Horkheimer charakterisieren sie mit der paradox anmutenden Formulierung: »Aufklärung als Massenbetrug«. Mit dieser Formulierung ist aber vor allem zum Ausdruck gebracht, dass die Kulturindustrie als etwas anderes erscheint als was sie in Wahrheit ist.
Genauso aber wie die Kulturindustrie als Ganzes genommen ein Betrug auf gesellschaftlicher Ebene ist, so sind auch die ihre einzelnen Produkte Betrug an jedem Einzelnen. Um diesen Betrug aufzuspüren, ist es notwendig, sich mit der Ästhetik dieser Produkte auseinanderzusetzen und den Versuch zu wagen, eine Analyse der Waren anzugehen, die die Kulturindustrie feilbietet.
In meinem Vortrag möchte ich mit Ihnen zusammen einige exemplarische Produkte – insbesondere musikalische Produkte – analysieren und dabei einige grundsätzliche Fragen der Analyse und damit auch der Kritik an der ästhetischen Dimension kulturindustrieller Produkte ansprechen.

 

Themenblock 5: Darüber hinaus (utopische Potenziale)

12.07.2023
Franziska Wildt:
Ästhetik des Widerstands nach Peter Weiss und G.W.F. Hegel

Diese Veranstaltung ist leider ausgefallen.

Der Vortrag entwickelt die Frage nach der gesellschaftstheoretischen Bedeutung der Ästhetik im
Spannungsfeld von Peter Weiss’ Roman Die Ästhetik des Widerstands und G.W.F. Hegels
Vorlesungen über die Ästhetik.
Der Begriff “Ästhetik” ist für Hegel der schönen Kunst unangemessen, weil er suggeriert, es ginge
hier bloß um Sinnliches. Die Kunst weist ihm zu Folge über dieses bloß den Sinnen Gegebene
hinaus. Sie hat wie die Philosophie einen geistigen Gehalt. Anders als die Philosophie vermittelt sie
diesen Gehalt jedoch durch sinnliche Ausdrucksmittel. Der Gegenstand der philosophischen
Ästhetik ist also zugleich sinnlich und Negation des Sinnlichen. Hegel begreift diese
widersprüchliche Form der Kunst als ihren Mangel gegenüber der Philosophie. — In diesem
“Mangel” kann man jedoch auch einen Vorzug sehen: gerade weil die Kunst durch ihre
Ausdrucksmittel auf die sinnlich-materielle Wirklichkeit der Gesellschaft verwiesen bleibt, ist sie
für deren Kritik relevant. Ästhetik als Theorie der Kunst ist so zugleich als Gesellschaftskritik zu
verstehen.
Doch in welchem Verhältnis steht die Ästhetik als Gesellschaftskritik zur Kunst? — Für Hegel hat
die Ästhetik als philosophische Theorie der Kunst den “Mangel” ihres Gegenstands überwunden,
weil ihr Denken keiner sinnlich-materiellen Vermittlung mehr bedarf. Diese Auffassung von
Ästhetik impliziert jedoch eine “Anästhetisierung” des Denkens. Um dem kritischen Gehalt der
Kunst gerecht zu werden, bedarf es entgegen einer solchen anästhetisierten Ästhetik einer
“ästhetischen Theorie”, oder einer “Ästhetik des Widerstands”. — Die Ästhetik des Widerstands von
Peter Weiss wird als ein künstlerisches Gegenmodell zu Hegels Ästhetik diskutiert, die sich der
Anästhetisierung der ästhetischen Form widersetzt.

Literatur
Weiss, Peter, Die Ästhetik des Widerstands, Berlin 2016.
Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Ästhetik I-III, in: Moldenhauer, Eva; Michel, Karl Markus
(Hg), Werke, Bd.13-15, Frankfurt/M. 1986.

Der Antisemitismus des iranischen Regimes. Das Herrschaftssystem der „Islamischen Republik“ und der Hass auf Israel.

Mit Stephan Grigat

Dienstag, 14. März

19:30 Uhr

TU Dresden, POT/112/H, Hettnerstr. 1

Der Vortrag wird die Geschichte des Antisemitismus im Iran vor dem Hintergrund einer Analyse des Herrschaftssystems der islamistischen Theokratie nachzeichnen und die Bedeutung der antisemitischen Ideologie für die iranische Außen- und Innenpolitik skizzieren. Davon Ausgehend soll die Bedrohung Israels und das iranische Atomprogramm im Zusammenhang mit den Modifikationen im iranischen Herrschaftsapparat in den letzten Jahrzehnten diskutiert werden, um abschließend zu fragen, welche Bedeutung aktuelle Machtverschiebungen im Iran und in der Region bei der Beurteilung des Bedrohungspotentials des Ajatollah-Regimes zukommt.

Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus am Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen. Er ist Research Fellow an der Universität Haifa und am London Center for the Study of Contemporary Antisemitism.

Der Vortrag ist Teil der Veranstaltungsreihe "Auseinandersetzungen zur Gegenwart des Antisemitismus", die von einigen Dresdner Gruppen in Kooperation organisiert wird.

 

Tagesseminar: Psychoanalyse und Gesellschaftskritik

mit Christine Kirchhoff
Samstag, 18. März
11:00 bis 18:30
TU Dresden

Anmeldung unter: pob@stura.tu-dresden.de

Weil die Psychoanalyse innerhalb der Kritischen Theorie bis heute wichtige Begriffe und damit Erklärungen liefert - bspw. in Bezug auf Autoritarismus, Verschwörungsideologie oder Männlichkeit - möchten wir uns einen Tag lang mit euch mit dem Zusammenhang von Gesellschaftskritik und Psychoanalyse auseinandersetzen. Unter anderem werden wir erörtern, weshalb psychoanalytische Kategorien für die Kritische Theorie notwendig sind und darüber diskutieren, inwiefern aus der Psychoanalyse stammende Begriffe wichtig für die Analyse des Antisemitismus sind.

Wenn ihr teilnehmen möchtet, meldet euch bitte unter pob@stura.tu-dresden.de an. Wir werden euch dann den Reader und weitere Informationen zukommen lassen. Für ein Mittagessen ist zudem gesorgt. Wir haben jedoch nicht endlos viel Essen - eine frühe Anmeldung lohnt sich also.
Ein vollständiger Ankündigungstext folgt in Kürze.

 

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Homonationalismus - Kritische Analyse oder Homophobie für den gehobenen Bedarf?

Vortrag von Till Randolf Amelung
Donnerstag, 23.02.23
19:00 Uhr
TU Dresden,
GER/37/H, Bergstr. 53

„Homonationalismus“ hat  als Begriff seit seiner Premiere im Jahr 2007 auch in Deutschland Eingang gefunden in die Felder der Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen man sich mit Queer Theory, Gender Studies, LGBTIQ, Intersektionalität und Ähnlichem beschäftigt. Dieser Begriff, der auf die US-amerikanische Queertheoretikerin Jasbir Puar zurückgeht, transportiert die These, dass westliche Nationalstaaten LGBT-Rechte ausschließlich zu rassistischen und nationalistischen Zwecken instrumentalisieren.  Im Vortrag  soll erörtert werden, warum der Begriff weniger für eine kritische Analyse, als vielmehr für Schwulenfeindlichkeit für den gehobenen Bedarf steht. Es wird dabei aber nicht nur eine falsche Dichotomie zwischen LGBT-Rechten und Rassismus aufgemacht, sondern auch Antisemitismus und Romantisierung von Islamismus, ebenfalls für den gehobenen Bedarf, produziert. Dies hat konkrete Folgen gerade auch für migrantische LGBT-Personen, die erleben, wie ein vermeintlich progressives Milieu sich konkreten Verfolgungserfahrungen gegenüber ignorant verhält, die entsprechenden Individuen gar im Stich lässt.
 

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Materialistischer Feminismus – Ein Einblick

Vortrag von Alexandra Colligs
Dienstag, 21.02.23
19:00 Uhr
TU Dresden, POT/112/H, Hettnerstr. 1/3

Heidi Hartmann prägte 1981 den Satz, dass Marxismus und Feminismus sich in einer „unglücklichen Ehe“ befänden. Marxistische Gesellschaftskritik, so die Implikation, thematisiert „die Frauenfrage“ oftmals als sogenannten Nebenwiderspruch, der sich nach der Befreiung von den herrschenden Produktionsverhältnissen von selbst erledigt. Das Patriarchat wird hierbei fälschlicherweise als koextensiv mit kapitalistischen Verhältnissen gesetzt. Umgekehrt räumen einige feministische Gesellschaftsanalysen Klassenverhältnissen keine systematische Bedeutung ein und reproduzieren die Vorstellung, Gleichheit ließe sich auf Leistungsprinzipien reduzieren. Hierbei wird etwa ignoriert, dass Diversifizierung nicht gleichbedeutend damit ist, Geschlechter- und auch soziale Ungleichheit aufzuheben. Materialistische Feminismen haben sich angesichts dieser Problemstellungen der Aufgabe verschrieben, eine Verbindung zwischen materialistischer Gesellschaftstheorie und Feminismus herzustellen. Der gemeinsame Einsatzpunkt ist es, Klassenverhältnisse und Geschlechterverhältnisse zusammen zu denken.
Im Vortrag wird es vor diesem Hintergrund darum gehen, wie ökonomische Kategorien wie Arbeit, Privateigentum, Produktion und Reproduktion zur Konstruktion und zur funktionalen Bestimmung des weiblichen Körpers und zur Identität „als Frau“ innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Bezug gesetzt werden können.

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Vortragsduo zur Kritik naturwissenschaftlicher Erkenntnis und der Klimaschutzbewegung

Grenzen der Instrumentellen Vernunft

Vortrag von Jörg Huber
Dienstag, 07.02.23
19:00 Uhr
Raum: Pot/112/H, Hettnerstr. 1, 3

Moderne maschinelle Produktion und Organisation basieren auf bewährten mathematisch-naturwissenschaftlichen und informatischen Theorien. Deren Erkenntnisse haben universale Geltung, weil ihnen eine gewisse Regelhaftigkeit in der Natur entspricht. Sie dienen auf der ganzen Welt als Grundlagen für die Techniken, die unseren Arbeitsalltag und inzwischen auch unsere Freizeit in immer stärkerem Maß bestimmen. Unser ganzes Denken gleicht sich ihnen schon seit längerem an, die Nutzung von mikroelektronisch gestützter Informationstechnologie beschleunigt diesen Prozess.

Technologie ermöglicht es sowohl Unternehmen als auch Individuen, sich selbst, ihre Produktion oder ihren Alltag immer effizienter zu organisieren. Ihr Einsatz erfolgt jedoch nicht unbedingt aus freien Stücken. Wer im allseitigen Konkurrenzkampf nicht auf der Strecke bleiben möchte, muss mit dem in seiner Gesellschaft etablierten technologischen Niveau mithalten.

Waffentechnologie ermöglicht den Nationalstaaten ihre nötige Souveränität gegenüber feindlichen Nationen zu sichern oder auf deren Kosten gar zu erweitern. Der Einsatz des Zerstörungspotentials steht dabei häufig nur als Drohung im Raum, aber auch jede noch so diplomatische Politik basiert letztlich darauf, dass sie sich verwirklichen lässt. Die Staaten haben die Wahl zwischen einer defensiven oder aggressiven Haltung, aber sie müssen mit der Bewaffnung ihrer feindlich gesinnten Nachbarn wohl oder übel mithalten.

Der rasante naturwissenschaftlich-technische Fortschritt liefert also nicht nur Mittel zur materiellen Verbesserung des Lebens, sondern auch diejenigen zu seiner Reglementierung oder gar Vernichtung und setzt Gesellschaften und ihre Mitglieder unter beständigen Modernisierungszwang. Er kann seiner in mehrerlei Hinsicht ambivalenten Rolle nicht entkommen, weil er zwar allgemein gültige Erkenntnisse nutzt, aber von sich aus an keine allgemein vernünftigen Ziele gebunden ist. Der kapitalistische Fortschritt, den Marx zu Zeiten der Industrialisierung noch leicht optimistisch “Entfesselung der Produktivkräfte” nennen konnte, wuchert bis heute quasi naturwüchsig wie ein Dschungel und wird von den Nationen bestenfalls notdürftig gesteuert, wenn er ihre Existenzgrundlage zu zerstören droht.
Aktuell herrschen im wesentlichen zwei vermeintlich naturwissenschaftlich fundierte Weltbilder vor, die von diesen grundsätzlichen Problemen weitgehend absehen und dem rein instrumentellen Denken korrespondieren. Obwohl sie in teilweise erbitterter diskursiver Konkurrenz zueinander stehen, eint sie ihr Machbarkeitswahn.

Das (neo-)liberale Weltbild hält die Natur im Prinzip für beliebig ausbeutbar, ihrer Eroberung und Indienstnahme zur Erweiterung menschlicher Macht sollen prinzipiell keine Grenzen gesetzt sein. Diese Überzeugung findet ihren deutlichsten Ausdruck in den nicht enden wollenden Träumereien und Versprechungen einer Expansion der Menschheit in den Weltraum. Sie lässt sich von den dort herrschenden lebensfeindlichen Bedingungen und den unüberbrückbaren Entfernungen im Kosmos erstaunlich wenig beeindrucken. Stärkere Investitionen gepaart mit leistungsorientierten Tugenden wie Erfindergeist und Risikobereitschaft können angeblich jede natürliche Hürde überwinden.

Das neuere ökologische Weltbild meint in der irdischen Natur eine hochkomplexe kybernetische Struktur erkennen zu können und glaubt sich auch systemtheoretisch in Mutter Natur einfühlen zu können. Es glaubt sicher zu wissen, dass die Natur von sich aus nach einem stabilen harmonischen Gleichgewicht im ewigem Werden und Vergehen strebt. Auf ein solche Harmonie im Einklang mit der Natur soll die Menschheit nun bei Strafe ihres Untergangs hinarbeiten und dabei für ihre bisherigen ökologischen Verfehlungen büßen. Das ökologische Top-Thema sind aktuell die mit immer größerer Rechenpower entworfenen apokalyptischen Zukunftsszenarien für das Weltklima. Der perhorreszierte allgemeine Untergang lässt aktuelles Leid (auch das durch lokale Wetterkatastrophen!) verblassen. Mit dem moralischen Appell an das vermeintlich universale Interesse an der Erhaltung der Gattung werden ständig neue Forderungen nach individuellem Verzicht gerechtfertigt, die bis hin zur Empfehlung von Subsistenz-Ökonomie reichen.

Beiden Weltbildern ist gemein, dass sie ihre gesellschaftlichen Ziele nicht als solche reflektiert sehen wollen, sondern als Sachzwang verstanden wissen möchten. Sie projizieren sie auf die Natur und fordern Bürger auf einer nur scheinbar naturwissenschaftlichen Grundlage dazu auf, sich an vorgeblich unabänderliche Verhältnisse anzupassen. Auch in der inzwischen abflauenden Corona-Pandemie haben sie beide auf ihre Weise die öffentliche Diskussion über möglichst effektive Maßnahmen zum Schutz vor dem neuartigen Virus und auch die über womöglich wirkungslose staatliche Auflagen behindert. Wichtige pragmatische Reaktionen auf diese Naturkatastrophe und ihre gesellschaftlichen Folgen sind ihren ideologischen Konzepten zum Opfer gefallen.

Der Referent Jörg Huber ist Physiker und freier Autor.
 

Ein „Leben im Einklang mit der Natur“ – und mit der Gesellschaft

Kritische Bemerkungen zur Klimaschutzbewegung ‚Fridays for Future’

Vortrag von Gerhard Stapelfeldt
Dienstag, 31.01.23
19:00 Uhr
Raum: GER/38/H, Bergstr. 53

Die Klimaschutzbewegungen eint, daß sie ihre Kritik auf die Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Klimaforschung stützen.
Luisa Neubauer hat, analog, ihre Utopie als ein „Leben im Einklang mit der Natur“ bestimmt.
Die Klimaschutzbewegungen eint somit: daß sie die politisch-ökonomischen, die gesellschaftlichen Ursachen der ‚Klimakrise’ nicht reflektieren; daß in ihrer praktischen (und theoretischen?) Kritik nicht der Anspruch enthalten ist, eine neue Gesellschaft zu entdecken.
Im Vortrag wird dieser gesellschaftliche Analphabetismus der Klimaschutz­bewegung zunächst am Begriff der Natur entwickelt. Zu zeigen ist, daß das, was ‚Natur’ heißt, immer schon eine gesellschaftliche Setzung war, so daß die Vorstellungen von ‚Natur’ sich mit der Gesellschaftsgeschichte verän­dert, also eine eigene Geschichte haben. Die Utopie eines „Lebens im Ein­klang mit der Natur“ impliziert deshalb die konformistische Vorstellung ei­nes Lebens im Einklang mit der bestehenden Gesellschaft.
Im Vortrag wird dieser gesellschaftliche Analphabetismus der Klimaschutz­bewegung sodann an den Konsequenzen skizziert: 1) Apokalyptische Vor­stellung von der Klimakrise als „größter Krise der Menschheit“. – 2) Selbst­verständnis als „Weltretter“. – 3) Politisch-ökonomische Bewußtlosigkeit und Verschwörungsphantasien. – 4) Geschichtliche Bewußtlosigkeit. – 5) Utopie und Dystopie. – 6) Autoritär-konformistische Praxis. – 7) Pseudo-Ra­dikalität.
Zum Abschluß wird die Frage erörtert, welche gesellschaftlichen Verhältnis­se in der Kritik der Klimaschutzbewegungen erscheinen – warum also der gesellschaftliche Analphabetismus der Bewegungen nicht als subjektives De­fizit aufzufassen ist, sondern als Ausdruck der Umstände.

Gerhard Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Soziologie-Professor an der Uni Ham­burg. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller in Hamburg.

 

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Vortrag von Ulrike Becker: Frau, Leben, Freiheit: Der Aufstand gegen das Mullah-Regime und das System der Unterdrückung in der Isalmischen Republik

Freitag, 16.12.22
19:00 Uhr
HSZ/401/H

Die „Islamische Republik Iran“ ist ein Regime der Unterdrückung, Zensur und Gewalt. Der islamische Gottesstaat erhebt den Anspruch, die Bevölkerung bis in die intimsten Bereiche hinein zu kontrollieren. Die totale Kontrolle trifft alle, insbesondere jedoch die Frauen, denn die islamische Ordnung wird insbesondere über die Zurichtung der Frau durchgesetzt. Wie funktioniert das System der Unterdrückung und von welchen Ideologien ist es geprägt? Welche Ziele hat die Freiheitsbewegung und was kann man von außen tun, um diese Bewegung zu unterstützen?

Ulrike Becker ist Historikerin und leitet den Bereich Forschung im Mideast Freedom Forum Berlin, einer Organisation für politische Bildung und politische Beratung.

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Wochenendseminare zur Dialektik mit Franz Heilgendorff im Sommersemester

Im Sommersemester 2022 wird es zwei weitere Workshopwochenenden (eines fand bereits im vergangenen Winter statt) zum Thema "Dialektik" geben.

Schreibt uns bitte (pob[at]stura.tu-dresden.de), insofern ihr gern teilnehmen möchtet bis zum Freitag eine Woche vor den Seminarwochenenden. Zum einen wird es für das letzte Wochenende einen Reader geben, den wir euch vorher zulassen kommen möchten und außerdem ist die Zahl der Teilnehmenden wichtig für die Organisation von Verpflegung zur Mittagszeit. Natürlich dürft ihr auch ohne Anmeldung teilnehmen, werden dann womöglich aber nicht bei der Planung von Mahlzeiten berücksichtigt.

Das nächste Seminarwochenende - diesmal werden wir uns mit der Dialektik bei Marx auseinandersetzen - findet am 11. und 12. Juni in im Raum GER/37/H (siehe Campusnavigator der TU Dresden) statt - Samstag und Sonntag jeweils von 10 bis 17 Uhr.

Bereits am 2. und 3. Juli wird das letzte Wochenende im Rahmen dieser kleinen Reihe stattfinden. In diesem wird die Dialektik in der Kritischen Theorie Thema sein. Auch hier folgt der Raum in kürze.

In drei Wochenendseminaren möchten wir gemeinsam erarbeiten, was es eigentlich mit dieser Dialektik auf sich hat. Ist sie eine Methode, die Wirklichkeit zu erkennen? Gar ein alles erklärender ‚Wunderapparat‘? Dialektik, war das nicht das Denken in Widersprüchen? Oder dieser Dreischritt von Thesis, Antithesis und Synthesis? Auf jeden Fall hatte es doch etwas mit Hegel und Marx zu tun. Und eine kritische Theorie der Gesellschaft ist doch ohne sie kaum denkbar. Außerdem ist da auch noch diese Sache, dass sich in dialektischem Denken irgendwie dem Objekt anzuschmiegen, der Bewegung der Sache selbst zu folgen sei….

Es scheint fast so, dass wenn etwas über Dialektik klar ist, nur dieses: Man weiß nicht so richtig, was darunter vorzustellen sei. Dialektik entzieht sich einer Definition, bestenfalls ergibt sich eine vage Vorstellung und damit das Verlangen nach Beispielen. Beispiele können aber keine gegeben werden, heißt es aber zugleich immer wieder, weil undialektisch.
Der Grund ist ebenso einfach wie schwer zu akzeptieren: Wenn etwas über Dialektik gesagt werden kann, dann, dass es die Methode der gedanklichen Wiedergabe einer Sache ist. Und zwar nicht so, dass einfach ein paar allgemeine Merkmale angegeben werden. Das wäre nur eine Reproduktion dessen, was man halt so sagt und denkt über eine Sache. Dialektischem Denken geht es um etwas anderes: Was über die Sache ausgesagt wird, soll nicht einfach ein äußeres Merkmal sein, sondern als die Eigenheiten dieser Sache begriffen werden. Das geht nur, wenn nachvollziehbar wird, warum diese Sache so und nicht anders erscheint. In dieser Art geht die Sache nicht einfach als ein totes Objekt in das Denken über, sondern behält ihre Lebendigkeit. Der Begriff von etwas ist damit die gedankliche Reproduktion der Sache selbst. Ein Beispiel: Dialektik in diesem Sinne ist nicht mehr und nicht weniger, als wenn jemand dich fragt, was deine Person ausmacht und du es dem Anderen in allen Details und Zusammenhängen erklärst. Alle diese Bestimmungen machen dich aus, genauso wie du nur in diesen Bestimmungen existierst.
Diese Problematik führt in den Kern von Dialektik: Sie ist eine Methode des Denkens, diese Methode besteht aber darin, die Struktur der Sache selbst nachzuvollziehen. Glückt die Darstellung, verschwindet darin die Methode, weil die Methode die Darstellung der Sache ist. Dialektik existiert also nur im Begreifen der Sache selbst und kann nicht davon abgetrennt werden. Schlimmer noch: Streng genommen hilft Dialektik nicht einmal dabei, etwas zu begreifen. Denn die Erkenntnis der Zusammenhänge und Eigenheiten hängt von vielerlei Dingen ab - nicht zuletzt von Zufall, spontanen Einfällen des erkennenden Menschen und den historisch-konkreten Bedingungen, unter denen sich die Erkenntnis vollzieht. Diese tiefe Bekanntschaft mit dem Gegenstand vorausgesetzt, ist Dialektik eine Methode der gedanklichen Reproduktion einer Totalität von Bestimmungen, in denen die Sache erscheint.
 Jede*r hat bestimmt die Erfahrung gemacht, dass dies außerordentlich schwierig ist. Einen komplexen Sachverhalt darzulegen, gleicht nicht selten einer wildgewordenen Drauflosdenkerei mit vielen Sprüngen. Und so stellt sich die Frage: Wo fängt man an? Wo endet man? Was ist das Ganze? Wie entwickelt man diesen Zusammenhang? Diese Kunst, derart mit Begriffen zu operieren, erfordert viel Anstrengung und wirkliches Denken, welches als Denken ebenfalls eine lange erfahrungsmäßige Geschichte hat. Diese Anstrengung wollen wir in einer angeleiteten Lektüre von Hegel, Marx und der Kritischen Theorie mit euch versuchen. Dabei beginnen wir mit Hegel, um zu verstehen, was Denken eigentlich ist. In einem zweiten Seminar widmen wir uns Marx, um zu verstehen, was die gesellschaftliche Praxis der Menschen ist. Und hierzu kommt in einem dritten Seminar anhand der kritischen Theorie die Frage, was das Denken der gesellschaftlichen Praxis der Menschen ausmacht. Indem wir so drei Sachen in ihrem eigenen inneren Zusammenhang nachvollziehen, sind keine Vorkenntnisse notwendig und es ergeben sich zugleich drei Beispiele dialektischen Denkens – im Idealfall also eine Idee, was Dialektik ist.
 

 

 

"Alles wird nichts gewesen sein - Annäherungen an den Begriff der Identität"

Ringvorlesung SoSe22

Mittwoch (und am 31.05.) 19 Uhr

Ort: TU Dresden, POT/81/H; ab der dritten Veranstaltung: Palais Palett (Meschwitzstraße 9, 01099 Dresden)

Beginn: 13.04 - NEUER Raum: POT/81/H

Identität. Ein Begriff, der seit Jahren virulent ist und viele gesellschaftliche sowie politische Auseinandersetzungen bestimmt. Angefangen bei der angeblichen Relevanz nationaler oder kultureller Identität über Diskussionen marginalisierter Identitäten bis zur unbedingt notwendig erscheinenden Suche nach der eigenen Identität begegnet uns dieser Begriff immer wieder. 

Diesen und weiteren Diskursen rund um kollektive und persönliche Identitäten ist gemeinsam, dass in ihnen oftmals versäumt wird, zu bestimmen, womit man es beim Reden und Schreiben über Identität eigentlich zu tun hat. Schließlich handelt es sich um einen Begriff, der aus der philosophischen Logik stammend den Umweg über die Sozialwissenschaften nahm, vor einiger Zeit Eingang im Alltagsdenken fand und nun dort wie in der politischen Auseinandersetzung ganz selbstverständlich genutzt wird. Dass es mit der Identität aber gar nicht so einfach ist, zeigt sich schon in der logischen Frage danach, ob sie als einfache Tautologie oder den Widerspruch integrierender dialektischer Prozess, der vielleicht gar nicht zu Ende gedacht werden kann und als Nicht-Identität verharren muss, verstanden wird. Wenn aber Identität gar nicht vollständig gedacht werden kann, wie konstituiert sich dann die Sehnsucht nach kollektiver und persönlicher Identität in spätkapitalistischen Gesellschaften? Und gibt es über das identitäre Denken hinaus auch materiell und ideologisch wirksame Identitäten in der hiesigen Gesellschaftsformation? 

Scheinbar handelt es sich bei Identität heute auch um einen politischen Kampfbegriff, der sich mit offenbar verschiedensten politischen Positionen vereinbaren lässt. Es wird versucht, Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren oder zu überwinden, von Sprechverboten geschrieben und davon, dass es wichtig sei, Identitäten zu schützen und anzuerkennen. Andere wiederum fordern die Überwindung der zwanghaften gesellschaftlichen Zurichtung, die mit der eigenen Identität einhergeht, welche als bewusstlose die Möglichkeit freier Entfaltung vernünftiger Subjekte versperrt. Letztlich ist die Kritik der Identität in der falschen Gesellschaft auch ein utopischer Ausblick, die Hoffnung, sich im Bewusstsein der eigenen Besonderheit im Anderen wiederzufinden, ohne Angst verschieden zu sein und sich dennoch nicht als vereinzelte Einzelne gegenüberzustehen. 

In der Ringvorlesung werden diese fragmentarisch dargestellten sowie weitere Fragen und Probleme rund um den Begriff der Identität behandelt, mit dem Ziel, einer Begriffsbestimmung unter gesellschaftskritischen Gesichtspunkten näher zu kommen. Die Vorträge werden in erster Linie eine kritische, dialektisch-materialistische Perspektive einnehmen, aber auch poststrukturalistische Erkenntnisse sollen zumindest partiell einbezogen werden.

 

Franz Heilgendorff: Warum Identität kein Begriff ist
 

am 13.04.22, 19 Uhr NEUER Raum: POT/81/H


Identität ist das, was im Denken dem Begriff einer Sache am nächsten zu kommen scheint: Es ist der Versuch, etwas und bisweilen sich selbst zu bestimmen und zu begreifen. In ihr wird eine Sache auf den Begriff gebracht. Dies schließt den gestalterischen Anspruch ein, diesen Begriff in der Wirklichkeit realisiert wie anerkannt zu wissen. Identität zielt so auf Politik und Handlungsfähigkeit, ist umkämpft und konstituiert sich im Spannungsfeld zwischen Unterwerfung und Selbstbestimmung. 
Was in identitätspolitischen Fragen zum Ausdruck kommt, ist damit eine Politisierung erkenntnistheoretischer Kategorien (Identität, Differenz, Subjekt, Substanz, Wesen, Erscheinung, Teil, Ganzes, Allgemeines, Besonderes, Etwas, Anderes, …), die in der philosophischen Logik antraten, die begriffliche Struktur der Wirklichkeit zu reflektieren. Denn schon im Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit liegt die (politische) Frage von Identität und Differenz. In der Rekonstruktion dieser Zusammenhänge wird nicht nur dem in der Frage der Identität verborgenen Problemzusammenhang von Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie nachgegangen, sondern es ergibt sich hieraus ein einführender Charakter der Veranstaltung. Zu klären wäre, was die Identitätskategorie im Kampf um die die Wirklichkeit bestimmenden Begriffe innerhalb kritisch-materialistischer Gesellschaftstheorie leisten kann.
 

 

Jörg Zirfas: Theorien und Modelle der Identität. Historische und interdisziplinäre Zugänge
 

am 20.04.22, 19 Uhr NEUER Raum: POT/81/H


Die moderne Identitätsforschung lässt sich vor allem als Reaktion auf 
die für die Menschen tendenziell krisenhaften Umbruchsituationen der 
Moderne verstehen. Identität wird als bedroht, risikobehaftet und 
prekär erfahren. Zugehörigkeit muss neu ausgehandelt, die Grenzziehung 
von Eigenheit und Fremdheit neu vorgenommen, Traditionen und Werte neu 
verteidigt oder verändert, Verinnerlichungs- und Aneignungsprozeduren 
neu überdacht werden: Soll eine als stabil erscheinende Identität um 
jeden Preis verteidigt werden oder muss man sich mit einer frei 
schwebenden, flexiblen Patchwork-Identität zufrieden geben? Anders 
formuliert: Identität verweist auf die mit der Moderne unmittelbar 
verknüpfte Problemlage der Anerkennung von Differenz und Kontingenz. 
Identität erscheint als ein Differenzierungs- und Vermittlungsbegriff 
in einem: Er signalisiert die internen Unterschiede im Selbst wie die 
externen Differenzen zwischen sich und dem anderen und er verweist auf 
die Leistungen, die zu erbringen sind, um ein gewisses Maß an internen 
wie externen Integrationen aufrechtzuerhalten. Im Vortrag wird 
versucht historisch und interdisziplinär nachzuzeichnen, wie diese 
Integrationsleistungen gedacht worden sind.

Christine Kirchhoff: „Was will das Weib?“ – Zum Unbehagen am Geschlecht und der Sehnsucht nach der „vollen Identität“


am 27.04.22, 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)


Sigmund Freud formulierte programmatisch, dass es nicht die Aufgabe der Psychoanalyse sein könne, zu sagen, was „das Weib ist“, sondern dass es der Psychoanalyse entspreche, zu fragen, „wie es wird“.
Ausgerechnet die schon für Generationen von Feministinnen ein Stein des Anstoßes war und in Folge kritisiert, verworfen oder durch scheinbar bessere Modelle ersetzt wurde, scheint zur Klärung dieser Frage nicht unbedingt geeignet. Liest man die freudsche Theorie des Geschlechterverhältnisses, basierend auf Ödipuskomplex, Kastration und Penisneid, das infantile Drama um die Entdeckung der Geschlechterdifferenz am eigenen Körper allerdings als Urszene der Konstitution der psychischen Repräsentation von Differenz, als Bedingung der Möglichkeit, nicht nur von Unterschieden zu reden, sondern diese auch aushalten zu können, dann wird es komplizierter: Nicht nur zeigt sich dann, dass sich immer erst nachträglich sagen lassen wird, was aus der Verwicklung von Natur und Kultur im Subjekt geworden sein wird; es zeigt sich auch, wie gesellschaftliche Verhältnisse in Theorie und Rezeption wiederzufinden sind. In diesem Sinne stellt der Vortrag die Frage nach der Konstitution von Differenz und dem Unbehagen daran, das sich in der Sehnsucht nach „voller Identität“ ausdrückt.


Prof. Dr. phil. Christine Kirchhoff, Professorin für Psychoanalyse, Subjekt- und Kulturtheorie an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU), Psychoanalytikerin (DPV/IPA).



Alexandra Colligs: Zur Frage der Identität. Zwei Formen der Kritik
 

am 04.05.22, 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)

Die Kategorie der Identität ist zu einem zentralen Bezugspunkt gegenwärtiger Politik geworden. Sowohl von rechts wie von links wird Identität als Kampfplatz besetzt, um politische Interessen zu formulieren. Vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen affirmativen Bezugnahme auf Identität werden in dem Vortrag zwei Perspektiven miteinander ins Verhältnis gesetzt, die Identität als Gegenstand philosophischer Kritik behandeln. Zum einen die postmoderne Subjektkritik Judith Butlers und zum anderen die Identitätskritik Theodor W. Adornos. Beide Modelle von Identitätskritik werden auf den ersten Blick von der gemeinsamen Einsicht getragen, dass Identität eine unzulässige Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine bedeutet. Dabei funktionieren die Zugänge jedoch nach anderen Logiken, aus denen verschiedene Konsequenzen dafür erwachsen, wie der Zusammenhang von Identität und Emanzipation gedacht werden kann.

 


Bini Adamczak: Private Property Personality?
 

am 11.05.22, 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)

Verstehen wir Identität nicht als Inhalt und Substanz, sondern als Form und Effekt, dann lässt sich fragen, aus welchen Beziehungen sie hervorgeht, auf welche historisch konstituierten Bedürfnisse sie eine Antwort verspricht. Damit kann sie zunächst an anderen Stellen sichtbar werden als jenen, an denen sie häufig vermutet wird. Es lässt sich auch fragen, welche anderen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung es gibt und welche Wirkungen anders konstruierte Beziehungsweisen hätten.



Roswitha Scholz: Klassenpolitik und Identitätspolitik. Eine Kritik

am 25.05.22, 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)

In der sog. Postmoderne werden Flexi-Zwangs-Identitäten (Stichwort: unternehmerisches Selbst), die über traditionelle Rollen hinausgehen, gefordert; von U. Beck wurde dieser Prozess beschönigend als Individualierung beschrieben bzw. sogar gefeiert. Dekonstruktivistische Konzepte, wie das von J. Butler passten gut in diese Entwicklung. Ebenso kam es in den letzten Jahrzehnten zu Migrationsbewegungen, ausgelöst durch Globalisierungsprozesse, (Bürger-)kriege und massiven Verelendungsprozessen in der sog. Dritten Welt. Damit einher ging eine Kulturalisierung des Sozialen, auf die im Fortgang der Krise spätestens seit 2008 eine Wiederbelebung des Materialismus und des Klassenbegriffs folgte.
Als gesellschaftliche Widerspruchskonstellation stehen sich so eine neue Klassenpolitik und eine Identitätspolitik (wobei der Begriff sehr unscharf verwendet wird) gegenüber. Dabei ist häufig ein Rückfall in einen kruden Traditionsmarxismus und eine personalisierende Kapitalismuskritik zu verzeichnen, die m. E. einem strukturellen Antisemtismus zuarbeiten. Damit einhergehend machen sich immer mehr eine Praxishypostasierung und Theoriefeinlichkeit breit.
M.E. wäre jedoch in der hiesigen Theorielandschaft auf ein übergreifendes Denken und ein Totalitätsverständnis zu pochen, das die Formbestimmung, den Fetischismus und ein fragmentiertes Ganzes im Sinne der Wert-Abspaltungs-Kritik, jenseits eines personalisierenden Kapitalismusverständnisses ins Zentrum stellt. Es gilt so einem Abstraktionstabu sowohl im Kontext von Identitätspolitiken als auch einer vulgärmarxistischen Klassenpolitik zu begegnen; beide bedingen sich gegenseitig. Stattdessen ist die Spannung zwischen Begriff und Differenzierung auszuhalten,ohne die kein neuer, dringend benötigter Universalismus (auch in der Praxis) zu haben sein dürfte. Dabei soll in dem Vortrag auch die Verfasstheit des heutigen Subjekts in der Verfallsphase des Kapitalismus thematisiert werden.



Ingo Elbe: Antisemitismus als Identitätswahn und Anti-Identitätswahn. Zur Logik der modernen Judenfeindschaft und ihrer postmodernen Erben


am 31.05.22 (Achtung, diesmal Dienstag!), 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)

Im Vortrag soll der moderne Antisemitismus als ein irrationaler Versuch analysiert werden, kollektive und individuelle Identität herzustellen, indem innere Konflikte und Ambivalenzen verleugnet und auf Juden projiziert werden. „Der Jude“ als „Figur des Dritten“ steht im modernen Judenhass dabei jenseits rassistisch, nationalistisch oder religiös konzipierter Identitätskonzepte und stellt für Antisemiten die Quelle der Bedrohung dieser kollektiven Identitäten dar.
In einem zweiten Schritt soll neben dieser klassischen Form des Antisemitismus aber auch ein genuin ‚anti-identitär‘ auftretender postmoderner Antisemitismus untersucht werden, der ein an den christlichen Judenhass erinnerndes „Jew-splitting“ (Bruno Chaouat) betreibt: Der „gute Jude“ ist neben dem toten Juden des Holocaust hier derjenige, der für Diaspora, Zerstreuung und Überschreitung der eigenen Identität durch gewaltlose Auslieferung an den Anderen steht, während der „böse Jude“ als verstockter zionistischer Nationalist und Siedlerkolonialist betrachtet wird, dessen Idee souveräner Identität dem ewigen Frieden der postnationalen Gesellschaft im Weg steht. Juden dürfen hier nur noch existieren, wenn sie ‚konvertieren‘ und letztlich ihre Identität negieren.


Dr. Ingo Elbe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. Zum Thema publizierte er zuletzt: The Anguish of Freedom. Is Sartre’s existentialism an appropriate foundation for a theory of antisemitism? In: Antisemitism Studies/April 2020 sowie sein Buch Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existentialismus und Postmoderne. (2. Aufl. Würzburg 2021), in dem auch die Themen Antisemitismus und Holocaustrelativierung behandelt werden (daraus online zugänglich: “… it’s not systemic”. Antisemitismus im postmodernen Antirassismus. (https://www.rote-ruhr-uni.com/cms/texte/article/it-s-not-systemic-658) sowie Die „Verschwörung der Asche von Zion“. Anmerkungen zum postkolonialen Angriff auf die Singularität des Holocaust (www.kritiknetz.de/antizionismusundantis...

 


Daniel James: Identität und konkrete Allgemeinheit: Aimé Césaires hegelianische Konzeption der Négritude
 

am 15.06.22, 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)

„Identitätspolitik“ besagt für verschiedene Leute verschiedener politischer Couleur verschiedene Dinge. Für die einen bezeichnet dieser Ausdruck die angemessene politische Antwort auf die andauernde Marginalisierung und Unterdrückung bestimmter sozialer Gruppen in liberalen Demokratien; für andere wiederum verschiedenste Übel, die sie in zeitgenössischer, vor allem (aber nicht allein) linker Politik auszumachen glauben. Gerade weil Identitätspolitik eine so lose und vielfältige Ansammlung politischer Projekte auf Grundlage marginalisierter Identitäten umfasst, die verschiedene Ziele und Strategien verfolgen – und damit auch verschiedene Arten der Reaktion provozieren – ist schon der Begriff der Identitätspolitik umkämpft. Umkämpfte Begriffe wie Demokratie, Macht oder eben Identitätspolitik zeichnen sich dadurch aus, dass es verschiedene Auffassungen derselben gibt, die selbst Gegenstand – oft erbitterter – Auseinandersetzung sein können.

Eine der zentralen Streitpunkte betrifft dabei die Frage, ob Identitätspolitik an besondere Identitäten geknüpfte Interessen zulasten des Allgemeininteresses vertrete. Ob aber tatsächlich ein solcher Konflikt zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen vorliegt, hängt davon ab, was man unter beidem jeweils versteht. Dass es sich hierbei um eine falsche Alternative handelt, lässt sich meines Erachtens einer der zentralen antikolonialen und antirassistischen intellektuellen, kulturellen und politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts entnehmen: der Négritude-Bewegung. Gerade weil diese Bewegung sich für die Kultivierung eines antikolonialen, antirassistischen schwarzen „Bewusstseins“ gegen die Assimilation in die Kulturen Europas einsetzt, wirft sie die Frage auf, wie sich vermeintlich partikulärer schwarzer Identität zur vermeintlich universellen westlichen Zivilisation verhalte.

Unter den einflussreichen Theoretiker:innen der Négritude war es vor allem der Schriftsteller, Politiker und Philosoph Aimé Césaire – neben Léopold Sédar Senghor und Léon-Gontran Damas einer der Begründer dieser Bewegung – der das Verhältnis von Besonderheit und Allgemeinheit in den Mittelpunkt seiner Behandlung schwarzer Identität gerückt hat. Bemerkenswert ist dabei, dass er sich bei Hegels Begriff der „konkreten Allgemeinheit“ bedient, um sein Verständnis der Négritude zu formulieren. Wie er seinem eigenen Bekunden nach Senghor sagte, als 1939 die französische Übersetzung von Hegels Phänomenologie des Geistes erschien: „Hör dir an, was Hegel sagt, Léopold: Um zum Allgemeinen zu gelangen, muss man sich in das Besondere versenken!“

In dieser Vorlesung werde ich mit Ihnen zunächst die Entwicklung von Césaires Verständnis der Négritude im Lichte einer Deutung von Hegels Begriff der „konkreten Allgemeinheit“ nachvollziehen. Dabei wird es mir nicht zuletzt auch darum gehen, die veränderte Auffassung des Universalismus zu rekonstruieren, die mit diesem Verständnis einhergeht: Dies ist ein „konkreter“ Universalismus, der nicht auf der Abstraktion, sondern der Integration besonderer Identitäten und der mit ihnen einhergehenden, Werte und Interessen beruht. Vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion werden wir abschließend diskutieren, was wir aus der Diskussion der Négritude hinsichtlich der Gegenwartsdebatte über die Identitätspolitik lernen können.

 


Lucas von Ramin: Identitätspolitik zwischen essentialistischer Gemeinschaft und neoliberalen Individualismus


am 22.06.22, 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)


Die Diskussion um den gesellschaftlichen Mehrwert von Identitätspolitik, also der Ausrichtung des politischen Handelns anhand der Bedürfnisse und Eigenschaften einer spezifischen Gruppe, gehört zu einer der zentralen politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. Kritisiert wird besonders an linken Identitätsprojekten, dass die überhöhte Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Minderheiten, diese zuallererst von dem Rest der Gesellschaft abgrenzt und als geschlossene Identitäten konstituiert. Gleichzeitig reproduzieren konservative und rechte Kritiker:innen partikulare Gemeinschaften, wenn sie als Alternative eine nationale Identität aufrufen. Das wirft die Frage auf, wie partikularistischen Projekten überhaupt ein universaler Anspruch eingeschrieben werden kann und ob dieser Anspruch als Unterscheidungsmerkmal zwischen rechten und linken Identitätspolitiken dient. Vielversprechend ist diese Differenz an zwei gängigen Kritikmustern zu diskutieren und damit die Debatte in ein Gesamtdispositiv kapitalistisch-demokratischer Gesellschaften einzuordnen. Während der Essentialismusvorwurf eine Tendenz zu Autoritarismus und geschlossenen Identität kritisiert, versteht der Kulturalismusvorwurf Identität als Produkt neoliberaler Vereinzelung und Verwertungslogik. Der Vortrag stellt beide Kritiken vor und diskutiert sie an der Frage einer ostdeutschen Identitätspolitik und deren autoritären bzw. rechtspopulistischen Tendenzen. Vielleicht zeigt sich gerade an diesem Beispiel, dass Identitätspolitik zwar die Kategorie der Identität aufruft und belebt, aber will sie demokratietheoretisch erfolgreich sein, vielmehr als Identitätspolitisierung und Kritik verstanden werden müsste.

 


Felix Schilk: Die Wiederverzauberung der Welt. Zur Kritik neurechter Identitätskonzepte

am 29.06.22 um 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)

Laut Lutz Niethammer ist der Begriff der „Identität“ paradox, da „alle Identitätspostulate essentialistisch und konstruktivistisch zugleich sind“. Das gilt in besonderem Maße für die Identitätskonzepte der Neuen Rechten, die zwischen der Reflexion der Funktion von Mythen, Narrationen und rituellen Performanzen und ihrer Affirmation im Rahmen eines politischen Hegemonieprojektes oszillieren.
Ausgangspunkt dieser neurechten Identitätskonzepte ist die Erfahrung, dass moderne Identitäten kontingent sind und erst durch soziale Praxis konstruiert werden. Dieses Problem versucht die Neue Rechte durch „Metapolitik“ zu lösen. Ihr Ziel ist die affirmative Erzeugung, die rituelle Stabilisierung und die institutionelle Reproduktion von Identitäten.
Im Vortrag wird gezeigt, welche Menschen- und Weltbilder dem zugrunde liegen, und wie die Neue Rechte dabei sozialwissenschaftliche Identitätskonzepte rezipiert.
(wird vielleicht noch verändert)

 


Luise Meier: Identität, Kollektivität und Solidarität. Prol-mutantische Ein- und Ausblicke des Proletkult.
 

am 06.07.22, 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)

Platzhalter

Dann fangen wir mal hier schon an. Die Person, die da später stehen und
vielleicht reden wird, die bin ich noch nicht. Die gibt es noch nicht.
Die ist mit mir jetzt nicht IDENTISCH. Das muss auch mal geschrieben
werden – besser im voraus. Und dann ist da vielleicht Platz zwischen
dieser Ankündigung und dem Moment, wenn das dann dort losgeht, dass es
anders kommen, dass es sich verändern, dass es anders sein kann, dass
andere anders sein können, anders denken können, anders zuhören, anders
sprechen können, auch als sie es zu müssen gewohnt sind. Also Platz
machen für die anderen und das andere. Und auch die Frage, ob sich das
andere, was jetzt hier steht und irgendwie schon, irgendwie aber auch
nicht, IDENTISCH ist mit einem Ankündigungstext, aushalten lässt und was
das macht und ob wir das andere nicht eben viel mehr selbst immer auch
sind – jedenfalls potenziell und das einmal nicht abzutrennen sich
lohnen könnte?…davon zum Beispiel könnte dann die Rede sein oder eben
von etwas ganz anderem.



Gerhard Stapelfeldt: Identität – Widerspruch – Utopie

am 13.07.22, 19 Uhr im Palais Palett (Meschwitzstr. 9)

Die Frage nach der Identität von Menschen und Dingen gehört zu den anfänglichen Fragen der europäischen Philosophie. Identität erschien als Telos der Fragen, wer ein Mensch, was eine Sache, was Wahrheit sei. Im Fortgang dieser Suche nach der Identität wurde bewußt, daß Identität theoretisch und praktisch nur bestimmt werden könne durch ihren Gegensatz, durch den Widerspruch. Das Bewußtwerden des Widerspruchs wurde endlich als Dialektik erkannt, die auf die Utopie der „Sache selbst“, des vernünftigen Individuums, der vernünftig eingerichteten Polis zielt. Identität erschien am Ende als eine repressive Idee mit utopischem Gehalt.
Im Vortrag wird dieser Zusammenhang von Identität, Widerspruch und Utopie zunächst an der hellenischen Philosophie skizziert: Parmenides, Heraklit, Platon.
Jener Zusammenhang wird sodann ausführlicher skizziert an Hegels Kritik der Französischen Revolution: der dialektischen Kritik der liberalen, dem Identitätsprinzip verhafteten Verstandes-Aufklärung; der Kritik des Verstandes-Terrors der jakobinischen Herrschaft; der kritisch eröffneten Aussicht auf eine vernünftige Gesellschaft, die Marx mit der Metapher der Jakobiner bezeichnete: „Verein freier Menschen“.


Gerhard Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Soziologie-Professor an der Uni Hamburg. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller in Hamburg.

 

vergangene Vorträge nachzuhören unter:

https://archive.org/details/@referat_fur_politische_bildung_tu_dresden


 

 

 

Sommersemester 2021:

In Zeiten der Revolution

Über Historie und Gegenwart gesellschaftlicher Transformation
 

Trotz der multiplen Krisendynamiken der Moderne rief Francis Fukuyama 1992 das Ende der Geschichte aus. Doch gesellschaftliche Transformationen finden weiterhin statt: Sei es die digitale Revolution, welche die Lebensweise großer Teile der Menschheit auf den Kopf stellt, oder auch der Klimawandel, der eine immer größere Bedrohung für Mensch und Natur darstellt. Darüber hinaus befinden sich die liberalen Demokratien in einer politischen Krise; das Misstrauen gegenüber politischen Institutionen wächst, autoritäre Parteien erlangen Macht und Lösungen der Probleme unserer Zeit sind kaum in Sichtweite. Die Liste der Krisen wächst zusehends weiter, nicht zu vergessen die akute Pandemie, die viele andere Krisen noch verstärkt. Doch waren Umbrüche und Krisen meist eben nicht nur Problem und Elend, sondern oft auch Chance und Motor eines gesellschaftlichen Fortschritts. Grund genug sich zu fragen: Wie kam es zu den vergangenen Revolutionen? Welche Rolle spielte Gewalt, ist sie gar notwendiger Bestandteil einer jeden Veränderung? Und welche Revolutionen könnten uns noch bevorstehen?

Diese und weitere Überlegungen zur Revolution in Vergangenheit und Gegenwart möchte das Referat Politische Bildung im Rahmen einer Ringvorlesung thematisieren. Geplant sind 5 Vorträge verschiedener ReferentInnen und eine abschließende Podiumsdiskussion, an welcher auch zivilgesellschaftliche AkteurInnen teilnehmen sollen.
 

Start am 02.06.2021, um 16:40, AZ Conni (Rudolf-Leonhard-Straße 39, 01097 Dresden, Germany):
 
Kapitalismus, Krisendynamiken, gesellschaftliche Transformationszwänge – und die Frage nach der „Revolution“ - Dr. Tino Heim.
 
Karl Marx gilt gemeinhin als Denker einer revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Gleichzeitig analysierte er die entsprechende Gesellschaftsformation selbst als immanent ‚revolutionär‘, da sie durch die spezifischen und grenzenlosen Dynamiken der Wirtschaftsform alle gesellschaftliche Verhältnisse dem Zwang einer permanenten Umwälzung unterwirft. Hier offenbaren sich grundverschiedene (wenn nicht gegensätzliche) Konzepte und Vorstellungen, die mit modernen Begriffen und Konzepten der „Revolution“ verbunden sind. Der Vortrag möchte in einige entsprechende Ambivalenzen in der politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Tradition einführen. Was war und ist mit „Revolution“ eigentlich gemeint? Wie verhalten sich objektive Bedingungen, Dynamiken und Zwänge gesellschaftlicher Transformationen gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse zu den Freiheitsgraden politischen Handelns in ihnen und zu den Möglichkeiten ihrer Überschreitung? Was ließe sich unter einem ‚revolutionären (Kollektiv-)Subjekt‘ verstehen und ist ein solches überhaupt noch denkbar? Ausgehend von solchen Grundsatzfragen sollen zugleich Schlaglichter auf die Frage geworfen werden, wie es um ‚revolutionäre Perspektiven‘ in den multiplen eskalierenden Krisendynamiken der Gegenwartsgesellschaft bestellt ist.

Der Vortrag wurde aufgezeichnet: https://archive.org/details/tino-heim

 
 

Montag, 07. Juni, 19:00 Uhr, AZ Conni (Rudolf-Leonhard-Straße 39, 01097 Dresden, Germany):
 
Revolutionstheorie und ihre Kritik bei Marx und Adorno - Dr. Ingo Elbe
Livestream ins AZ Conni - Referent aus persönlichen Gründen nicht vor Ort

 
 

Karl Marx hat nicht nur beansprucht, die kapitalistische Produktionsweise zu analysieren, er wollte auch „Umwälzungsmomente der alten Gesellschaft“ identifizieren, also sozioökonomische Dynamiken und soziale Bewegungen, die den Kapitalismus transzendieren und den Sozialismus herbeiführen.

Gegen den naiven „Durchhalteparolenoptimismus“ (Wolfgang Pohrt) der traditionellen Linken ist allerdings zu zeigen, dass diese „Umwälzungsmomente der alten Gesellschaft“ mit Hilfe von Marx‘ entfalteter Kritik der politischen Ökonomie nicht nur nicht begründet werden können, sondern sogar systematisch dementiert und widerlegt werden.

Am Ende steht eine ideologiekritische Diagnose über die Unwahrscheinlichkeit der Revolution, die nach der Shoah noch weiter verschärft werden muss, indem mit Erich Fromm und Theodor W. Adorno die sozialpsychologischen Grundlagen eines Umschlagens von vermittelter in unmittelbare Herrschaft und von kapitalrationaler Ausbeutung in die wahnhafte Ideologie des Antisemitismus und die vollends irrationale Vernichtung der Juden reflektiert werden müssen.

Dr. Ingo Elbe ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. 2010 erschien in 2. Auflage sein Buch Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik. 2015 publizierte er das Buch Paradigmen anonymer Herrschaft. Politische Philosophie von Hobbes bis Arendt. Aktuelle Veröffentlichung: Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existentialismus und Postmoderne. 2. überarbeitete Auflage, Würzburg 2021. Online-Texte unter: https://uol.de/philosophie/pd-dr-ingo-elbe/publikationen

Ingo Elbe hat sich aus persönlichen Gründen dazu entschieden, den Vortrag online zu halten. Wir werden dennoch vor Ort einen Livestream ermöglichen und auch die Bar wird offen sein. Kommt also gerne ins Conni, wenn ihr Lust auf Vortrag und Diskussion gemeinsam mit Anderen habt!
Falls ihr euch doch dazu entscheidet, lieber von Zuhause aus an dem Vortrag teilzunehmen, könnt ihr uns via Facebook oder Mail kontaktieren und erhaltet den Zugangslink.

 

Dienstag, 22. Juni, 16:40 Uhr, AZ Conni (Rudolf-Leonhard-Straße 39, 01097 Dresden, Germany):

In Zeiten der Gegenrevolution - Felix Schilk
 
Die Transformationen der Neuzeit haben die Sozialstruktur ihrer Gesellschaften immer wieder umgewälzt. Eine Folge der dadurch erhöhten sozialen Mobilität sind Konflikte um Macht, Statuspositionen und Privilegien. Parallel zu den bürgerlichen und sozialistischen Revolutionen, die die Privilegien der bisher Herrschenden in Frage stellten, formierten sich daher stets Gegenrevolutionen. Die Herausforderung dieser Gegenrevolutionen bestand darin, Herrschaft und Ordnung unter veränderten Rahmenbedingungen neu zu legitimieren.

Dieses Spannungsfeld hat nicht nur die Soziologie als Reflexionswissenschaft hervorgebracht, sondern auch den Konservatismus als politisches Hegemonieprojekt. Soziologie wie Konservatismus liegt die Erfahrung zugrunde, dass soziale Ordnungen nicht gottgegeben, sondern historisch gewachsen und damit kontingent sind. Während die Soziologie bestrebt ist, die Kontingenz des Sozialen analytisch zu durchdringen, versucht sich der Konservatismus an einer Restabilisierung der sozialen Ordnung durch Sakralisierungspraktiken.

Im Vortrag wird die Entstehung des Konservatismus aus dem Geist der Gegenrevolution von den französischen Gegenrevolutionären Joseph de Maistre und L.G.A. de Bonald über den konservativen Positivismus Auguste Comtes bis zur „Konservativen Revolution“ der Zwischenkriegszeit nachvollzogen und der Konservatismus als ein Phänomen skizziert, in dem sich soziologische Reflexion auf die Kontingenz sozialer Ordnungen mit dem Versuch, sie sekundär zu stabilisieren, verschränken.

 

Donnerstag, 01. Juli, 18:00 Uhr, AZ Conni
 

Gewalt oder (R)Evolution? Überlegungen im Anschluss an Walter Benjamin - Peggy Breitenstein

In seinem wichtigen Text „Zur Kritik der Gewalt“ (1921) zeigt Benjamin, dass die Verwobenheit von Recht und Gewalt nicht durchbrochen wird, solange sich Geschichte als bloße Abfolge von Umwälzungen von Herrschaftsformen oder der Dialektik von Klassenkämpfen erweist und beschreiben lasse: Denn jede Installation einer neuen Herrschaft setzt zwar die gewaltvolle Aufhebung des überkommenen Rechts voraus, jedoch zugleich auch die ebenfalls auf Gewalt angewiesene Einrichtung sowie Aufrechterhaltung einer neuen Herrschaft und des entsprechenden Rechts. Neben einem solchen, als naturgeschichtlich oder evolutionär beschreibbaren „Umlauf“ mythischer Rechtsformen und mythischer Gewalt, sieht Benjamin allerdings auch die Möglichkeit einer „Durchbrechung“ in Gestalt einer revolutionären „Entsetzung des Rechts samt den Gewalten“. Diese Entsetzung wiederum sei angewiesen auf eine „reine“ oder „revolutionäre Gewalt“.

Doch was genau könnte damit gemeint sein? (Wie) Kann diese revolutionäre Gewalt überhaupt gedacht werden? Oder: Wie kann ein Tigersprung aus der (Vor)Geschichte eingeleitet werden (bzw. „der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“)?

Diese Fragen wollen wir gemeinsam klären, diskutieren und bestenfalls kreativ mögliche Antworten ersinnen – im Anschluss an Benjamin, Hannah Arendt sowie evtl. weitere Positionen kritischer Theorie./span>

 

Peggy H. Breitenstein hat u.a. Philosophie studiert und zum Zusammenhang von Geschichtsphilosophie und Gesellschaftskritik bei Adorno und Foucault promoviert. Seit 2015 lehrt und forscht sie am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena u.a. zu Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Gesellschaftskritik und jüngst zum Umgang mit Rassismus, Sexismus, Antisemitismus in Werken der Philosophie

Link zur Webseite: https://www.philosophie.uni-jena.de/Breitenstein


 
Mittwoch, 07. Juli, 18:00 Uhr, AZ Conni

Hollywood zwischen Revolution und Restauration - Wolfgang M. Schmitt

Hollywood ist so intelligent wie der Kapitalismus selbst: Die Traumfabrik befindet sich in einer permanenten Revolution. In den vergangenen 100 Jahren ist es Hollywood immer wieder gelungen, sich die herrschenden Bedingungen anzupassen oder diese selbst ideologisch herzustellen. Der aktuelle Kampf aber ist noch lange nicht ausgefochten, möglicherweise lässt er sich auch gar nicht gewinnen: Mit China und Indien sind zwei neue Filmmärkte zu globalen Playern avanciert, die Hollywood klein und schwächlich wirken lassen. Wie reagiert Hollywood auf diese Herausforderung? Auch filmimmanent spielt der Kapitalismus eine große Rolle – zum Beispiel Western, Gangsterfilme und Dramen erzählen davon. Während das sowjetische Kino früh Bilder und Geschichten für Revolutionen fand, scheint in Hollywood der Kapitalismus trotz aller Kritik the only game in town zu sein. Gerade dies aber verleiht dem US-amerikanischen Unterhaltungsfilm seine diagnostische Stärke und konfrontiert – bewusst oder unbewusst – uns Zuschauer stets aufs Neue mit den Blindflecken unserer Systems. In seinem Vortrag „Hollywood zwischen Revolution und Restauration“ vermisst der Podcaster und YouTuber Wolfgang M. Schmitt, bekannt durch seinen Kanal „Die Filmanalyse“ (youtube.com/filmanalyse), das Wirken der Traumfabrik in Vergangenheit und Gegenwart.


 
Donnerstag, 15. Juli, 19:00 Uhr:
 
Podiumsdiskussion: Revolution in Theorie und Praxis - mit Constanze Stutz und Aktivist:innen
 
Entlang von vier Schlaglichtern zum Verhältnis von Feminismus und Revolution wird in einem kurzen Input nachgezeichnet, wie und warum sich ein feministisches Revolutionsverständnis grundlegend von bekannten Vorstellungen einer gewaltvollen großen Umwälzung unterscheidet und vorgreifend, tastend schon im Hier und Jetzt das ganz Andere sucht (und gelegentlich auch findet). Warum also Kämpfe um Reproduktion – soziale wie ökologische – und das Geschlechterverhältnis im Herzen der Revolution liegen, wie Bini Adamczak schreibt. Formen des Widerstands zwischen Streik und Aufstand, zwischen Selbstveränderung und Veränderung der Verhältnisse, zwischen Enteignung der Körper und der Mittel zur Reproduktion rücken damit in den Mittelpunkt einer feministischen Auseinandersetzung um revolutionäres Begehren und die Frage, wie eine andere Gesellschaft herzustellen ist und einzurichten wäre.

Anschließend daran, möchten wir zusammen mit politischen Akteur:innen in Dresden über das Verhältnis von Revolution und Praxis sprechen. Was heißt revolutionäre Praxis heute und in Dresden? Dabei versuchen wir, die bisherigen Vorträge mit einzubeziehen. Welche Mittel sind für revolutionäre Praxis legitim? Wie kann mit Konservatismus umgegangen werden? Diese und weitere Fragen möchten wir gemeinsam in der Abschlussveranstaltung diskutieren.
 

Wintersemester 2018/19:

Vortag von Gerhard Stapelfeldt: Die Selbstverständigung der Revoltierenden- Marx und die 68er

AZ Conni, 15. Januar 2019, 20:00 bis 22:00 Uhr

 

Der äußere Anlaß des Vortrags ist das Zusammentreffen zweier Tage uto­pisch gerichteter Erinnerung: Am 5. Mai 2018 wurde der 200. Geburtstag von Karl Marx gefeiert, 2018 wird auch an die Studenten- und Jugendrevolte vor 50 Jahren erinnert. Weil die Protestierenden von 1968 ihr Selbstverständ­nis wesentlich durch die Rezeption der Werke von Marx geklärt haben, ist der äußere Zusammenhang jener Tage auch ein innerer. Im Vortrag werden deshalb die Schwierigkeiten der Marx-Rezeption um 1968 und der Verfall Marx-Lektüre zu einer Philologie im gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext der BRD skizziert.

Die Revolte von 1968 konnte nur entstehen im Kontext einer allgemeinen Systemkrise von bürgerlicher Gesellschaft und Ökonomie, die von den USA und Lateinamerika bis Westeuropa und Asien reichte. – In der BRD brach in der Krise von 1966/67 die Identität der Westdeutschen auf. Diese hatte sich nach 1945 paradox zugleich in der Kontinuität zum Nationalsozialismus und im Bruch mit der Barbarei gebildet: Verdrängung des Nationalsozialismus; Stolz auf das durch masochistische Arbeit erreichte ‚Wirtschaftwunder’; An­tikommunismus; äußerliche Identifikation mit der Kultur und der politischen Ordnung der Siegermacht USA. – Durch das Aufbrechen der kollektiven Identität der BRD konnte der Nationalsozialismus erstmals erinnert werden (Frankfurter Auschwitz-Prozesse), die Marktwirtschaft als Kapitalismus be­griffen und die masochistische Arbeit als Triebunterdrückung aufgeklärt wer­den; der Antikommunismus erodierte durch die ‚Neue Ostpolitik’ der Bun­desregierung; die USA büßten ihre Vorbildfunktion ein durch die Militärin­terventionen von Cuba bis Brasilien. – Die Studierenden konnten diese Krise begreifen durch Rezeption der Werke von Marx (politische Ökonomie; Kom­munismus), der kritischen Theoretiker um M. Horkheimer (Nationalsozialis­mus), Freud (Triebunterdrückung; Autoritarismus) sowie R. Luxemburg und Lenin (Imperialismus).

Nun standen die klassischen Werke der Gesellschaftstheorie 1968 überwie­gend nicht zur Verfügung, oder sie waren schwer zugänglich. Es gab auch kaum Lehrende, die kundig über diese Werke sprechen konnten. Also mußte alles, was durch den Nationalsozialismus und den Stalinismus liquidiert schien, erst neu publiziert und dann langsam studiert werden, durch Textexe­gese. Unmittelbar auf die bestehenden Verhältnisse ließen sich jene Theorien nicht ‚anwenden’.

Als die Revolte von 1968 unterging und an ihre Stelle die Neuen Sozialen Bewegungen traten, wendete sich das praktische Interesse von der Kritik der politischen Ökonomie ab und der Kritik der instrumentellen Rationalität zu. Mit dem Beginn der Implementierung neoliberaler Strukturen des gesell­schaftlichen Irrationalismus treten kritische Theorie und kritische Praxis vol­lends auseinander: die Rezeption der Lehre von Marx erstarrt in einer un­historischen Marx-Exegese, die Bewegung der Globalisierungskritiker wen­det sich allenfalls an begriffslose Kapitalismus-Beschreibungen wie die von N. Klein. So steht auf der eine Seite eine kritische Theorie, die durch den Verfall praktischer Gesellschaftskritik fetischisiert wird, und andererseits eine Praxis, die dem Bestehenden umso mehr verfällt, je weniger dies aufge­klärt wird.

Im Interesse weltverändernder Praxis besteht die Aufgabe darin, diesen Ver­fall theoretischer und praktischer Kritik aus der Ordnung der Neuen Freiheit aufzuklären – nicht durch Anwendung der Lehre von Marx auf veränderte Umstände, sondern durch Ausarbeitung der Marx’schen Kritik der politi­schen Ökonomie zu einer Kritik der politischen Ökonomie des staatsinter­ventionistischen und des neoliberalen Kapitalismus.

 

G. Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Soziologie-Professor an der Uni Hamburg. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller in Hamburg.

 


Lesekreis: Kritik der Volksgemeinschaft heute. Zum Zusammenhang von Volksgemeinschaft und Antisemitismus

Zeitraum: 1.11.2018 bis 31.1.2019

“Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem es kroch” - So schrieb es Bertolt Brecht einst im Hinblick auf die militärische Zerschlagung NS-Deutschlands und blickt man sich heute um, so scheint es nach wie vor am brodeln zu sein: Im Namen des Volkes und zunehmend mit offenem Bekenntnis zu nationalsozialistischen Gedankengut wird auf den Straßen mobilisiert; außerparlamentarische Organisationen wie die “Identitäre Bewegung” und der “Antaios Verlag” bereiten praktisch und theoretisch eine vermeintliche kulturelle Revolution von rechts vor; und auch parteipolitisch manifestiert sich die “Alternative für Deutschland”.


So heteronom sich die dabei involvierten Sympatisant_innen und Aktivist_innen selbst inszenieren, so sehr sie sich dabei von ihren eigenen Traditionslinien abgrenzen, so homogen und einig sind sie sich doch in einer Sache: ihrer Zugehörigkeit zum Volk. Was also eigentlich ist dieses Volk?

Betrachtet man die Verwendung des Wortes „Volk“ zunächst einfach, so fällt unmittelbar auf, dass das Wort „Volk“ zumeist bestimmt wird, durch das, was es nicht ist. „Wir sind das Volk“ heißt es gegen das parteipolitische „Establishment“, welches den Volkswillen vergessen habe. „Wir sind das Volk“ heißt es gegen Asylsuchende, die bloß als solche oder auch als straffällige nicht zum „deutschen Volk“ gehören. „Wir sind das Volk“ heißt es gegen die scheinbar die Realität verschleiernden Medien. – Wird vom „Volk“ gesprochen, so wird wesentlich davon gesprochen, was es nicht ist.

Damit ist zum Inhalt von „Volk“ selber zunächst noch nichts dazu gelernt, aber es eröffnet eine Perspektive: will man wissen, was das „Volk“ ist, will man wissen, wie das Wort „Volk“ Verwendung findet, so hat man auf die Zusammenhänge zu achten, in die der Begriff verstrickt ist. Beim „Volk“ sind das demnach wesentlich Fremdbestimmungen, durch welche sich die völkische Selbstbestimmung erst ergibt. Daran schließt sich dann notwendig die Frage an, warum und zu welcher Zeit das Bedürfnis der Selbstbestimmung als Volk gegen „Andere“ überhaupt aufkam, sowie die Frage nach denjenigen, die da als „Andere“ bestimmt wurden.

Diese Perspektive wollen wir uns im Lesekreis erarbeiten, d.h. die Möglichkeit der Entwicklung eines Begriffs vom Volk und den Zusammenhängen desselben.

Hierfür lesen wir gemeinsam Texte. Zuerst werden wir Auszüge aus dem Buch: “Stapelfeldt, Gerhard: Über Antisemitismus. Zur Dialektik der Gegenaufklärung, Hamburg 2018” lesen. Anhand dieses Textes wollen wir uns zunächst dem Begriff „Volk“ annähern, um dann darauf aufbauend das Aufkommen desselben in der deutschen Geschichte aufzuklären, sowie sehen, gegen wen er sich richtete. Davon ausgehend wollen wir uns dann der Gegenwart stellen. Hierfür stehen die Texte noch nicht fest, da diese gemeinsam mit euch ausgewählt werden sollen. Zur Debatte steht bisher vornehmlich das Parteiprogramm der AFD, sowie andere parteipolitische Programme.


Der Lesekreis wird immer donnerstags ab 18:30 Uhr im Willers-Bau (Raum: WIL/C106/U) der TU Dresden stattfinden:

https://navigator.tu-dresden.de/etplan/wil/00/raum/219500.0240

Insofern Interesse besteht, schreibt uns einfach eine E-Mail an folgende Adresse und wir lassen euch dann den Text zukommen:

Lesekreis.refpob[ät]gmx.de

Beste Grüße,
das RefpoB.


PS: Der Lesekreis richtet sich nicht zuletzt an Interessierte ohne Vorkenntnisse. Es soll (zu Beginn) gemeinsam gelesen und diskutiert werden, sodass jedem Teilnehmer und jeder Teilnehmerin der inhaltliche Zugang ermöglicht wird. 
Selbstverständlich ist auch ein Quereinstieg möglich.

 

Sommersemester 2018:

Das unerträgliche Alltägliche.
Ringvorlesung zu gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen.

Raum für (fast) alle Veranstaltungen dieser Reihe: REC/B214/H
Recknagelbau, Haeckelstraße 3, 01069 Dresden
 

 

10.04.18 16.40 Uhr, WIL/A221/U – Einführungsveranstaltung (RefPoB)

Die Einführungsveranstaltung dient der Orientierung, wie die Ringvorlesung vonstattengeht. Wichtige Informationen bezüglich der Lesekreissitzungen, zu den zu jeweiligen Texten und auch dem studium generale werden bekannt gegeben.

Audiomitschnitt

17.04.18 18.30 Uhr, WIL/A221/U – Vortrag: Dr. Peggy H. Breitenstein: “Anekdoten der Vergangenheit? Marx zum Verhältnis von offener Gewalt und struktureller Herrschaft”

Gesellschaftsformationen – feudalistische, kapitalistische etc. – können Marx zufolge nicht im luftleeren Raum oder auf dem Reißbrett entstehen, sondern nur aus bereits bestehenden Gesellschaften. Wie in seinen Augen der Kapitalismus entsteht, beschreibt er sehr eindrücklich im 24. Kapitel des ersten Bandes des Kapital, das überschrieben ist mit „Die sogenannte ‚ursprüngliche Akkumulation‘“. Die zentrale Frage ist hier: Wie entsteht Kapital, genauer eine Kapitalmenge, deren vorrangiger Zweck „Verwertung des Werts“ ist und die dergestalt als Ursprung eines eigendynamischen, selbsttragenden, unabschließbaren Prozesses beständigen Kapitalwachstums angesehen werden kann, den Marx zugleich als notwendige Bedingung dieser Wirtschaftsweise analysiert.
Ausgangspunkt ist die Kritik an einem Gründungsmythos, wie er gewöhnlich in der Politischen Ökonomie (und nicht nur dort und nicht nur zu Marxens Zeiten) erzählt wird: Die „ursprüngliche Akkumulation“ – so Marx – spiele hier „ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen .... So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten. ... In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und ‚Arbeit‘ waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel ....“
Diesen Gründungsmythos konfrontiert Marx allerdings mit einer faktengesättigten, gut belegten Gegengeschichte, in der er u.a. vor Augen führt, wie „große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert“ oder wie das „zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert“ wurde. Doch die Darstellung der konkreten Gewaltakte und Mittel, derer sich vor allem Staatsgewalten letztlich bedienten, um die für den Kapitalismus konstitutive Trennung von Produzenten und Produktionsmitteln durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, beschränkt sich im Kapital keinesfalls auf diese Gegengeschichte. Der gesamte erste Band des „ökonomischen“ Hauptwerks von Marx kann (auch) als eine Kritische Theorie der Gewalt gelesen werden; einer Gewalt allerdings, die Menschen sich nicht nur gegenseitig, sondern auch sich selbst antun, sofern sie der Herrschaft des automatischen Subjekts „Kapital“ unterworfen sind.
Genau dies soll im Vortrag gezeigt werden und führt hoffentlich zu Überlegungen und anregenden Diskussionen darüber, was daraus gefolgert werden kann für uns und unsere Praxis. Im Vortrag werden zudem Grundbegriffe (z.B. „Gewalt“ und „Herrschaft“) differenziert und geklärt sowie der Zusammenhang polemischer Konzepte (wie „Fetischismus“ und „Versachlichung“ bzw. „Verdinglichung“) erläutert.
 
 

24.04.18 16.40 Uhr, WIL/A221/U – Lesekreis: Marx, Karl: Das Kapital. Vierundzwanzigstes Kapitel. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation.

 

15.05.18 16.40 Uhr, REC/B214/H – Lesekreis

 

29.05.18 16.40 Uhr, REC/B214/H – Vortrag: Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt: “Neue Freiheit und strukturelle Gewalt in der EU: Grundrechte-Charta, Wettbewerbs-Markt und monetäre Ordnung”

Die europäische Integration stand, seit dem Vertrag zur Gründung der EGKS von 1951/52, unter dem einen politischen Ziel: daß nach dem von Deutsch­land begonnenen Zweiten Weltkrieg der „Weltfriede“ zu sichern sei durch die Integration der BRD in ein europäisches Bündnis-System, zuerst durch die Vergemeinschaftung der für die Waffenproduktion zentralen deutschen Schwerindustrie. Dieses politische Ziel sollte auf unpolitische Weise durch die Konstitution einer europäischen, formalrechtlich geregelten Wirtschafts-Technokratie erreicht werden.
Das politische Ziel drückte sich nach 1980 und nach 1990 aus in der Auf­nahme zuerst der ehemaligen Diktaturen Südeuropas, dann der ehemaligen COMECON-Staaten Mittel- und Osteuropas in die EG/EU. Insofern ist die EU allererst eine Werte-Gemeinschaft. Die Grundwerte der EU wurden je­doch erst im Jahre 2000 in einer Grundrechte-Charta fixiert.
Die unpolitische wirtschafts-technokratische Integration fand bis 1971/73 statt unter dem Dach der administrativ geregelten Weltwährungsordnung von Bretton-Woods. Nach deren Zusammenbruch wurde die Integration nach den Dogmen des Neoliberalismus und des Monetarismus vollzogen.
Während das politische Ziel der Sicherung des Weltfriedens noch der klas­sisch-liberalen Menschenrechtserklärung entsprach und auf Kants Vernunft-Utopie des „ewigen Friedens“ verweist, folgt die neoliberale und monetari­stische Wirtschafts- und Währungs-Integration der EU den Normen der Neu­en Freiheit. Deren Theoretiker bestimmen den neuen Liberalismus als Über­tragung der Lehre Darwins auf Wirtschaft und Gesellschaft: als Übertragung des von Darwin erkannten „Krieges der Natur“ in eine Marktordnung, in der Wettbewerber um den „Sieg der Erfolgreichen“ und die „selektive Ausmer­zung“ der Verlierer kämpfen. Gemessen am politischen Ziel der Integration erweist sich die ökonomische Ordnung als ein System struktureller Gewalt.
Diese Transformation kann an der Grundrechte-Charta der EU sowie an den vertraglichen Regelungen von Wettbewerbs-Markt und Währungs-Ordnung studiert werden.

Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt lehrte von 1979 bis 2009 am Institut für So­ziologie der Universität Hamburg. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller in Hamburg.

 

05.06.18 16.40 Uhr, REC/B214/H – Lesekreis: Grundrechte-Charta der Europäischen Union UND Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789

 

12.06.18 16.40 Uhr, REC/B214/H – Vortrag: Dr. Christine Zunke: “Objektivität und ihre Subjekte”

In seinen von 1830 bis 1842 geschriebenen Arbeiten zur Positiven Philosophie forderte Auguste Comte, dass die Wissenschaft von den Fragen nach dem Wesen der Dinge ablassen und sich endlich den Tatsachen zuwenden solle. Das Positive, das tatsächlich Vorhandene und Messbare möglichst ohne subjektive Verzerrungen darzustellen wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zum neuen Ideal der Naturwissenschaften. Hiermit fand eine erkenntnistheoretische Wende statt – weg von der ‘Naturwahrheit’ und hin zur empirischen Objektivität. Dieser Wechsel von der Suche nach dem Wesentlichen zur Darstellung objektiver Tatsachen veränderte den Charakter der modernen Wissenschaften grundsätzlich.

In ihrem 2007 erschienenen Werk Objektivität zeigten Lorraine Daston und Peter Galison, dass sich hiermit zugleich der Typus des Wissenschaftlers radikal veränderte. Während Goethe noch den Geist des Genies als unhintergehbare Bedingung jeder wissenschaftlichen Erkenntnis pries, schrieb Darwin in seiner Autobiographie, dass „nicht schnelle Auffassungsgabe oder geistige Beweglichkeit“, sondern „die Beobachtung und Sammlung von Tatsachen ... mit allem nur erdenklichen Fleiß“1 das Erfolgsgeheimnis seiner Forschungen sei. Spekulative Einbildungskraft und geniales Interpretationsvermögen standen als subjektive Erkenntnisformen einer objektiven Betrachtung des Gegenstandes im Weg und mussten durch besondere Praktiken der Selbstdisziplinierung unterdrückt werden. Während die industrielle Revolution die Menschen daran gewöhnte, im Takt der produzierenden Maschinerie zu arbeiten, wurden Selbstbeherrschung, Fleiß und gewissenhaftes Protokollieren aller Arbeitsvorgänge auch zu epistemischen Tugenden der Forschung. Eine neue Form des wissenschaftlichen Sehens fand ihr Ideal in photographischen Abbildungsverfahren, in denen die Kamera – im Gegensatz zum subjektiven Blick – all jene Tugenden verkörperte, nach denen die Naturforscher und ihre IllustratorInnen strebten.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte es, bis Comtes zentrale Forderung, auch die Sozialwissenschaften sollten sich an den positiven Methoden der Naturwissenschaften orientieren, weitgehend durchgesetzt war. Nun entwickelte sich eine Kritik an der radikalen Trennung von erkennendem Subjekt und erkannter Objektivität, die jedoch kaum bis auf die Naturwissenschaften zurückwirkte. Die Kritische Theorie diagnostizierte Anfang der 60er Jahre im Rahmen des sogenannten Positivismusstreites das Ideal der wissenschaftlichen Objektivität, die sich von allem Einfluss des erkennenden Subjektes möglichst frei halten soll, als eine spezifisch kapitalistische Form der Entfremdung: Wie die ArbeiterInnen von ihren Produkten, so seien die WissenschaftlerInnen von ihren Objekten abgeschnitten.

1Charles Darwin, Mein Leben, F.a.M. 1993, S. 146 f.

 
 

19.06.18 16.40 Uhr, REC/B214/H – Lesekreis

 

26.06.18 18.10 Uhr, REC/B214/H – Vortrag: Prof. Dr. Rolf Pohl: “Männlichkeitskrise und die Re- Souveränisierung des Mannes. Zur Sozialpsychologie von Sexismus, Rassismus und Gewaltbereitschaft”

Die verbreitete, mit antifeministischen Schuldzuweisungen erhobene Klage über die "Krise der Männlichkeit“ ist ein verschobener, von der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten ablenkender Diskurs. Die Nähe dieses Diskurses zum Rechtspopulismus weist auf den engen Zusammenhang von Sexismus und Rassismus in der „Mitte“ der deutschen Gesellschaft hin. Die völkische Sehnsucht nach einer nationalen Einheit ohne Fremde und der Hass auf “Feminismus” und “Genderismus” sind dabei stark mit dem Wunsch nach einer “notfalls” auch gewaltbereiten Wiedergewinnung männlicher Souveränität und Überlegenheit verbunden. Vor diesem Hintergrund ist die Aufregung selbsternannter Beschützer deutscher Frauen über die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln 2015/16 heuchlerisch, solange dieser Zusammenhang beschwichtigt, verharmlost und verleugnet wird. Auch die allmählich einschlafende #MeToo-Debatte wird daran grundsätzlich nichts ändern.
 
 

03.07.18 18.30 Uhr, objekt klein a (Meschwitzstraße 9, 01099 Dresden) – Vortrag: Dr. Iris Dankemeyer: “Die Gewalt der Musik. Zum gesellschaftlichen Gehorsam in der transatlantischen Technobewegung”

Techno begann als Revolte gegen die Unterhaltungskultur. Die neue Musik wollte nicht mehr als akustische Hintergrundkulisse zur Vermeidung von Einsamkeitsgefühlen vor sich hindudeln oder in Diskotheken als Animiermelodik die Lügen der love songs verbreiten. Sie erschuf dagegen mit konsequent geilem Bumsbeat eine eigene Clubkultur und ein neues Gemeinschaftsgefühl. Wo die Ohren zuvor von bekömmlichen Tönen verweichlicht worden waren, forderte Techno zwingend und kompromisslos Gehorsam. In Berlin wurde aus einer anfangs noch in Tresoren und Bunkern abgeschotteten Subkultur binnen weniger Wendejahre zuerst eine Massenkundgebung mit verzehntausendfachter Mitläuferzahl. Bis heute ist die Partykultur ein Standortfaktor der Kreativindustrie. Die Instrumentalisierung von Techno zur Generalhymne der „arm, aber sexy“- Ideologie hat geholfen, die prototypische Existenzweise des Prekariats gegen deren eigene politische Interessen durchzusetzen. Wer die Arbeitslosigkeit mit dem Ende der Arbeit verwechselt, braucht keine Freizeit und keinen Feierabend zur Kompensation der Arbeitsstunden, sondern ein Nachtleben, das zur neuen Vollzeitaufgabe wird. 
Der Vortrag erinnert an das, was Techno einmal ausdrückte: das Lebensgefühl der untergegangenen Industriestadt Detroit. Hier entstanden die dystopischen Zukunftsklänge zum einen als musikalische Emanzipation von den Standards der „race music“, zum anderen als verzweifelte Reaktion auf die Erfahrung von Verwahrlosung, Armut und Gewalt. Wie konnte aus der Not der amerikanischen „Techno City“ eine Tugend der selbsternannten „Hauptstadt der Clubkultur“ Berlin werden? Und warum eignete sich ausgerechnet die musikalische Negation der Popkultur als Exportschlager und Massenkulturware fürs gesamtdeutsche Gemeinschaftsgefühl? Ist es die Gewalt der Musik, die noch heute Individuen in mythischen Tanztempeln zusammenführt, wo sie sich durch eine gemeinsame Sache glücklich verbunden fühlen und nicht als Konkurrenten durch ein abstraktes Gesetz getrennt? 
Oder ist Techno die Musik der Gewalt, die Hörige in einen konformistischen Kollektivritus zwingt und ihnen das Gesetz der Gesellschaft mit bis zu 150 Schlägen pro Minute einprügelt?

 

 

Wintersemester 2017/18:

Veranstaltungsreihe "Blickpunkte." (Vier einführende Vorträge aus gesellschaftskritischer Perspektive)

Do, 12.10.17, 18:30 Uhr, HSZ/E03/U: "dass feminist:innen nie fertig werden...oder: wieso wir immer noch nicht gleichberechtigt sind (einführend. ich verstehe es auch nicht)." (Rosa Klee)
 
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - diese tollen Errungenschaften hat uns die Aufklärung gebracht. Frauenbewegungen seit den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft klagten Menschenrechte, Wahlrecht, 
Lohnarbeit, Selbstbestimmung auch für Frauen* ein. Nun sind wir endlich auch Staatsbürger und Arbeitskräfte, unser Körper und unsere Sexualität gehören uns. Oder? Viele frühere Forderungen sind erfüllt, dennoch sind FrauenLesbenTransInterQueers gesellschaftlich weiterhin klar unterlegen.

Wo ist der Haken? Wie kommt diese Unlogik zustande, wie hält sie sich? Sind vorhandene Ungleichheiten ein Rest aus vormodernen Zeiten, der demnächst von der -eigentlich schon umgesetzten- Gleichstellung, vom Fortschritt, überwunden wird? (Nein, das Problem ist ein sehr modernes, wie ich zeigen will.)

Eine permanente Geste des Feminismus scheint zu sein: Wir (Frauen*) wollen übrigens AUCH die gleichen Rechte haben. Wir sind aber AUCH in der Lage zu XYZ. Feminismus muss aber AUCH zur Gesellschaftskritik dazugehören. usw. Super nervig. Dass solches ständig neu eingefordert werden muss, lässt uns (Feminist_innen) und die Kritik fragmentiert aussehen. Wir müssen scheinbar immer wieder von vorn anfangen. Sind wir zu blöd, um endlich die Lösung zu finden?

Und wieso zur Hölle müssen wir immer wieder aufs Neue beweisen, dass wir AUCH intellektuelle Vorträge halten können?
 
Do, 19.10.17, 18:30 Uhr, HSZ/E03/U: "Zur Kritik des Antiromaismus." (Isabel Andiel)
 
Workshop mit Audiofeature zur Situation von Roma und Sinti und einer Spurensuche von der NS-Vergangenheit bis in die Gegenwart
 
Das Audio-Feature zeichnet den Weg vom Lager Lety in Tschechien bis nach Auschwitz nach, erzählt vom Widerstand und der Suche nach der eigenen Vergangenheit und Identität. Doch wer waren die ProtagonistInnen damals, wer sind sie heute? Was sind ihre Schicksale und was hat sie bewegt? Mit

unterschiedlichen Perspektiven und Erzählsträngen involviert das Audio-Feature, klärt auf und regt an neue Wege der Auseinandersetzung einzuschlagen.

Roma und Sinti sind mit 12 Millionen Angehörigen die größte ethnische Minderheit in Europa und zugleich die am stärksten diskriminierte Gruppe. Seit dem Mittelalter leben sie in Europa. Ihre Ausgrenzung und Verfolgung begann in der Frühen Neuzeit mit der Herausbildung der
Territorialstaaten und bildete ihren negativen Höhepunkt mit der nationalsozialistischen Verfolgung. Über 500.000 Roma und Sinti wurden aus rassistischen Gründen als „Zigeuner“ von den Nationalsozialisten in Deutschland und den besetzen Gebieten ermordet. Der Genozid wird auch
als Porajmos bezeichnet.

Bis heute tragen gesellschaftliche Ressentiments gegenüber Roma und Sinti zu Ausgrenzung und Diskriminierung bei. Eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Antiromaismus und der Aufarbeitung des Völkermords an ihnen, ist bisher nicht erfolgt.

Der Workshop diskutiert anhand des Features Vergangenheit und Gegenwart dieses mörderischen Rassismus.

 
Do, 26.10.17, 18:30 Uhr, HSZ/E03/U: "Die Konservative Revolte der Neuen Rechten." (Felix Schilk)
 
Die „Neue Rechte“ steht derzeit im Fokus der Öffentlichkeit. Während Journalisten in immer neuen Scharen zu Götz Kubitschek nach Schnellroda fahren, verschieben sich die Töne in den Medien. Neurechte Publikationen erobern immer weitere Regalmeter in den Kiosken und das selbsternannte „Widerstandsmilieu“ wächst, frohlockte kürzlich die Zeitschrift Sezession. Doch auch Veröffentlichungen über die Neue Rechte haben Konjunktur, wie die jüngsten Monografien von Volker Weiß, Samuel Salzborn und Thomas Wagner illustrieren. Dort können Interessierte den langen Aufstieg der Neuen Rechten pointiert nachlesen.

Was indes zu kurz kommt und im Vortrag im Fokus stehen soll, ist das ambivalente Verhältnis von Neuer Rechter und Konservatismus, über das beide Seiten interessierte Vorurteile pflegen. Weder ist die Neue Rechte einfach nur konservativ, wie das ihre Apologeten von der Jungen Freiheit bis zur AfD behaupten, noch lässt sich zwischen Konservatismus und Neuer Rechter ein klarer Trennungsstrich ziehen, wie die konservative Journalistin Liane Bednarz notorisch versucht. Stattdessen sind die Geschichte der Neuen Rechten und des Konservatismus in Deutschland vielfältig miteinander verwoben – nicht nur in personeller, sondern auch in programmatischer Hinsicht. Ein Großteil des begrifflichen Arsenals, mit dem die Neue Rechte heute operiert, entstammt dem intellektuell avancierten Konservatismus von Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky bis Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Hermann Lübbe und Panajotis Kondylis.

Im Vortrag werden die Entstehung der Neuen Rechten aus dem Geist des Konservatismus nachgezeichnet und Metamorphosen des konservativen Denkens im 20. Jahrhundert beleuchtet. Dabei wird deutlich, dass sich die Neue Rechte als versprengtes Glied und intellektuelles Verfallsprodukt des in die Krise geratenen konservativen Denkens verstehen lässt.

Felix Schilk forscht und lehrt am Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden und schreibt für die Wochenzeitung Jungle World. Zuletzt erschien von ihm: Souveränität statt Komplexität. Wie das Querfront-Magazin ›Compact‹ die politische Legitimationskrise der Gegenwart bearbeitet. Münster 2017: Unrast.

 
Do, 02.11.17, 18:30 Uhr, HSZ/E03/U: "Die Macht der Dinge. Zur Kritik der bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse" (Franz Heilgendorff)
 
Das Problem, vor dem ein einführender Vortrag aus gesellschaftskritischer Perspektive steht, ist weniger (aber auch), dass die zur Kritik des Kapitalismus notwendigen Begriffe – um nur einige herauszugreifen – wie Verdinglichung, geistige und körperliche Arbeit, Produktionsverhältnisse oder auch Subjekt und Objekt gänzlich unbekannt wären. Vielmehr ist wahrscheinlich unverständlich, wieso die konkreten Erfahrungen, die im Umgang mit Machtsituationen, Herrschaftsstrukturen und Gewalt gemacht werden, als Bruch zwischen Subjekt und Objekt oder als Versachlichung gesellschaftlicher Beziehungen formuliert werden sollten. Theoretische Begriffe wie diese haben ihre Funktion eingebüßt, eine Erfahrung über die nicht unmittelbar sinnlich erfahrbaren Zusammenhänge der Gesellschaft zu ermöglichen. Wenn doch noch etwas mit ihnen verbunden wird, dann handelt es sich meist um inkohärente Versatzstücke der Alltagserfahrung, wie es an Begriffen wie Mehrwert deutlich hervortritt.

Die Erfahrungsweise des gesellschaftlichen Ganzen ist bereits so fragmentiert, dass allein der Versuch, in eine kritische Theorie der Gesellschaft einzuführen, die Herrschaftsverhältnisse begrifflich zu reproduzieren droht. Die Sprache, die eine materialistische Gesellschaftskritik spricht, scheint wie eine groteske Felsenmelodie: Nicht tauglich, die Interessen und die Erfahrungen der erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung auszudrücken. Unklar bleibt, wie sich die konkreten Erfahrungen mit diesen theoretischen Begriffen verbinden sollen. Stattdessen drückt sich in ihnen nur die radikale Trennung von wissenschaftlicher Analyse der Gesellschaft und unmittelbarer Erfahrung des gesellschaftlichen Ganzen, von geistiger und körperlicher Arbeit aus. Im Vortrag soll der Versuch gemacht werden, theoretische Begriffe so zu öffnen, dass eine Ahnung entsteht, wie in ihnen und durch sie kohärente Erfahrungen über die gegenwärtige Gesellschaftsformation gemacht werden können und warum sich die Anstrengung des Begriffs nicht nur lohnt, sondern eine Notwendigkeit darstellt. Die bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse dienen dabei als Beispiel für diesen gesellschaftskritischen Blickpunkt.
 

Veranstaltungsreihe "Gesellschaftskritik in der Krise"

Mi, 12.04.2017, 18:30 Uhr, HSZ/E03/U: "Die strukturelle Krise der Kapitalakkumulation als Hintergrund multipler Krisendynamiken" (Dr. Tino Heim)
 
Die multiplen Krisendiskurse der Gegenwart zeigen ein fragmentiertes Krisenbewusstsein, das die immanenten Zusammenhänge ökonomischer, soziokultureller, politischer und ökologischer Krisenausprägungen verdeckt. Der Vortrag diskutiert die Ursachen- und Wirkungszusammenhänge verschiedener Krisen in der Logik der Kapitalakkumulation und in den Entwicklungstrends des kapitalistischen Weltsystems. Die Unterscheidung zyklischer Krisen von langfristig eskalierenden Krisendynamiken, die die Bedingungen des Kapitalismus unterminieren, stellt dabei vor die Frage, ob letztere mit den Mitteln der gegenwärtigen Wirtschaftstheorie und -politik noch adäquat begriffen und bearbeitet werden können.
 

Mi, 19.04.2017, 18:30 Uhr, CHE/184/U: "Kritik in der Krise – Theoretische Bedingungen und Probleme kritischer Gesellschaftswissenschaft" (Dr. Michael Städtler)

Krisen haben für die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft eine ambivalente Bedeutung: Ihre schmerzhaften Auswirkungen erregen Protest, aber sorgen auch dafür, dass dieser sich auf die Krise und deren vermeintliche unmittelbare Ursachen (z.B. Fehlverhalten von Spekulanten, Bankiers oder Staatsführungen) beschränkt. Damit regen sie eine Kritik am Kapitalismus an, aber eine, die nicht den Kapitalismus als solchen begreift und kritisiert. Die Strukturen kapitalistischer Gesellschaften sind in hohem Maße von Prinzipien abhängig, die anonym und indirekt wirken. Sie sind keine Gegenstände der Erfahrung, sondern können nur durch Denken, durch theoretische Reflexion von Erfahrungen erkannt werden. Begründete Kritik muss darauf aufbauen und die in gesellschaftlichen Strukturen institutionalisierten Zwecke in den Blick nehmen. Krisen erzeugen den Anschein, ein unmittelbares Objekt der Kritik zu sein. Damit erzeugen sie Krisen in der Theorie und der Kritik. Dieser Befund gilt analog für empirische Gerechtigkeitsdefizite, sog. ‚soziale Pathologien‘, aber auch für die Stoßrichtung mancher neuen sozialen Bewegungen. Der Vortrag thematisiert notwendige Elemente theoretischer Kritik, die Notwendigkeit solcher Kritik überhaupt als Voraussetzung einer sinnvollen Praxis sowie auch das Problem der Theoriefeindlichkeit. Es geht also um die Vergegenwärtigung kritischer Theorie.
 
Mi, 10.05.2017, 18:30 Uhr, HSZ/E03/U: "Frauen als Avantgarde? Ist die Krise des Kapitalismus auch eine Krise des Patriarchats?" (Prof. Dr. Christine Bauhardt)
 
Trotz ihrer Ohnmacht gegenüber vielen Krisen sitzt die herrschende Klasse scheinbar fest im Sattel. Und diese Herrschaft ist nach wie vor unbestreitbar männlich. Sind die patriarchalen Herrschaftsverhältnisse dem Kapitalverhältnis unabänderlich eingeschrieben? Welchen Spielraum hat die Emanzipationsbewegung der Frauen unter diesen Umständen? Welche Wirkungen hat es, wenn sich die Geschlechterverhältnisse und Rollenklischees im Alltag zu ändern beginnen: Frauenquoten, Kindergärtner, Männer im Erziehungsjahr, nackte Femen als Rebellinnen. Was ändert eine weibliche Kanzlerin und eine Frau als Vorstandschefin eines Konzerns an den Herrschaftsverhältnissen des Kapitalismus? In welchem Verhältnis stehen Macht-, Herrschafts- und Geschlechterverhältnisse und welchem Wandel unterliegen sie?

Mi, 01.06.2017, 18:30 Uhr: "Multiple Krisen als Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse" (Prof. Christoph Görg)

Trotz aller Ökologiedebatten und internationalen Umweltabkommen spitzen sich globale Umweltprobleme weiter zu. Der Vortrag geht den Ursachen dieser umfassenden Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse nach und fragt nach ihrem Zusammenhang mit dem Charakter der kapitalistischen Produktions-, Konsum- und Lebensweise sowie mit anderen Krisentendenzen. Dazu werden die Besonderheiten und die historische Entfaltung des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur im Kapitalismus diskutiert. Wie lässt sich die Zuspitzung sozial-ökologischer Krisendynamiken erklären und wie lassen sich aktuell diskutierte Alternativen einschätzen?

Mi, 01.11.2017, 18:30 Uhr, HSZ/204/U: "Subjekt in der Krise" (Prof. Dr. Christine Kirchhoff)

Der Vortrag fällt leider aus

Es grenzt an eine Tautologie zu sagen, dass in der gegenwärtigen Krise auch das Subjekt in die Krise geraten sei, ist doch Subjektivität ohne ihre gesellschaftliche Vermittlung nicht zu denken. Was kann überhaupt in die Krise geraten, wenn doch schon Marx feststellte, dass das Subjekt, auf das es im Kapitalismus ankommt, ein „automatisches Subjekt“ sei? Was heißt dies für die empirischen Subjekte, die Einzelnen, die sich um ihrer Reproduktion willen am Markt behaupten müssen? Was heißt dies vor dem Hintergrund des von Theoretikern der Postmoderne ausgerufenen und zugleich affirmierten Ende des Subjekts? Und was heißt dies, wenn man eine psychoanalytische Perspektive einnimmt und mit Adorno davon ausgeht, dass man in den innersten psychologischen Zellen auf gesellschaftliches stoße?
Diese und andere Fragen versucht der Vortrag zu beantworten, indem die Attraktivität von Verschwörungstheorien, eine Regression des Denkens mit dessen eigenen Mitteln, sowie die Dynamik der medial vermittelten Massenbildung wie Vereinzelung diskutiert werden.
 
Mi, 15.11.2017, 18:30 Uhr, HSZ/204/U: "Krise der Bewegung oder Krise der Emanzipation???" (Christoph Spehr)
 
Unser heutiger Begriff von Bewegungen als das Andere zur institutionalisierten Politik, als ein Teil eines außerparlamentarischen Raums, in dem sie die Ansprüche und Utopien der sozialen Gruppen und gesellschaftlichen Kräfte artikulieren, werden zunehmend von rechts aufgegriffen und propagiert, was irritierend sein muss. Welche Strategien können dem entgegengesetzt werden? Wie kann die Gesamtheit der fortschrittlichen Kräfte der heutigen Situation gerecht werden? Die Analyse hierzu sollte beginnen mit dem, was sich in den jüngsten US-Wahlen aber auch in den Verschiebungen in Westeuropa zeigt. Hier muss die gesellschaftliche Linke prüfen, wo ihre historischen Beschränkungen liegen und wo sich Perspektiven zeigen.

Mi, 06.12.2017, 18:30 Uhr, HSZ/204/U: Podiumsdiskussion zwischen Tino Heim und Felix Schilk: "Kritische Theorie, populistische Praxis? Zur Kritik und Ambivalenz rechts- und linkspopulistischer Krisenreaktionen"

Die sich zuspitzenden multiplen Krisenkonstellationen haben in den letzten Jahren EU-weit zu einem Anwachsen rechter und linker Protest- und Empörungsbewegungen geführt. Entgegen aller Hoffnungen, dass Gesellschaftskritik damit endlich wieder eine unmittelbare Relevanz für praktische Kämpfe gewinnen könne, bietet aber gerade auch der Linkspopulismus kaum adäquate Perspektiven der Analyse, Bearbeitung oder gar Überwindung der Krisenursachen. Er erweist sich vielmehr selbst als Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher Widersprüche und Krisen. Das geteilte Problem eines hier sichtbar werdenden Verfalls des gesellschaftskritischen Denkens soll in der letzten Sitzung der Reihe aus zwei verschiedenen und teilweise kontroversen Perspektiven sondiert und gemeinsam diskutiert werden.

Felix Schilk: Der weltweite Aufstieg des Rechtspopulismus wird in der Regel durch zwei Motive erklärt: Als identitätspolitische Strategie und als Besetzung der sozialen Frage von rechts. Dieser Transformation der politischen Topographie versucht der Linkspopulismus, meist unter Berufung auf seine prominente Vordenkerin Chantal Mouffe, nicht zuletzt mit agonalen Feindbildern und affektiver Sinnstiftung zu begegnen. Im Vortrag sollen Gemeinsamkeiten des linken und rechten Populismus aufgezeigt, ihre sozialen und sozialpsychologischen Ursachen benannt und anschließend einer Kritik unterzogen werden. Dabei wird deutlich, dass die demagogische Form des linken Populismus politische Ohnmacht und soziale Unmündigkeit reproduziert, anstatt die Ursachen für gesellschaftliche Krisen aufzuklären.

Tino Heim: Gesellschaftskritik ist gegenwärtig mit einem doppelten Generalvorwurf konfrontiert. Zieht sie sich auf wissenschaftliche Analyse zurück, erscheint dies als Flucht in elitäre Spezialdiskurse, die die Nöte der ‚einfachen Menschen‘ einer autoritären Anrufung von rechts überlassen. Mischt sie sich aktiv in gesellschaftliche Kämpfe und in Artikulationen diffuser Unzufriedenheiten ein, steht sie in Verdacht selbst populistisch zu agieren und die Muster rechter Anrufungen zu reproduzieren. Beide Vorwürfe sind oft berechtigt, erweisen sich aber letztlich als zwei Seiten desselben Problems einer fortschreitenden Trennung von Theorie und Praxis der Kritik. Dies stellt vor einige Fragen: Können praktische Kämpfe ohne Affekte auskommen und können an sie dieselben Kriterien angelegt werden wie an wissenschaftliche Analysen? Gibt es Momente eines ‚Linkspopulismus‘, die in Inhalt und Form vom Rechtspopulismus unterscheidbar wären? Und (nicht zuletzt) können theoretische Analyse und praktische Kritik wieder in ein anderes, wechselseitig reflexives Verhältnis gebracht werden?

 

Sommersemester 2017

"Un|gebrochene Geschichte - Ringvorlesung zur Gegenwart autoritärer Bewegungen"

Do, 06.04.2017, 18,30 Uhr, HSZ/201/U: Einführungsvortrag zur Reihe durch das Referat politische Bildung

Do, 13.04.2017, 18,30 Uhr, HSZ/201/U: "“Sozialfaschisten” und “Kommu-Nazis”. Wie KPD und SPD vor 1933 auf den Erfolg der NSDAP reagierten" (Dr. Olaf Kistenmacher)

Der Aufstieg der NSDAP ab Ende der zwanziger Jahre war für die beiden Arbeiterparteien, wie auch für viele Liberale, ein Schock. In den Reaktionsweisen der SPD und der KPD finden sich bereits die Muster, wie antifaschistische Linke erneut im 21. Jahrhundert auf den Erfolg von völkischen, extrem rechten, nationalistischen Bewegungen antworten. Es bleiben Grundprobleme: Soll man die Republik verteidigen, wie es die SPD tat, oder wie die KPD die Krise begrüßen, weil diese eine Überwindung der herrschenden Ordnung ankündigt? Was macht man mit den Menschen, die nach rechts strömen: versuchen, sie (zurück) zu gewinnen, oder schlagen, wo man »sie trifft«? Am Ende der Weimarer Republik bezichtigten sich SPD und KPD gegenseitig, am Erfolg der Nazis mit schuld zu sein, und beschimpften sich als »Sozialfaschisten« und »Kommu-Nazis«…

Olaf Kistenmacher promovierte über judenfeindliche Aussagen in der Tageszeitung der KPD, Die Rote Fahne und schreibt für die Jungle World, die Konkret und die Phase 2. Mit Sina Arnold hat er das Buch Der Fall Ethel und Julius Rosenberg. Antikommunismus, Antisemitismus und Sexismus in den USA zu Beginn des Kalten Krieges verfasst.

Literaturliste zum Vortrag

Do, 20,04.2017, 18,30 Uhr, HSZ 403: "Die Deutung des Nationalsozialismus durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung" (Dr. Björn Oellers und Paul Stegemann)

---Achtung anderer Raum!---

Der Marxismus – die in der Tradition von Karl Marx stehende Theorie der Gesellschaft – befindet sich in den 1920er-Jahren in einer Krise. Sie zeigt sich insbesondere darin, dass der aufkommende Faschismus aus marxistischer Sicht theoretisch nicht erklärt werden kann. Weitgehend wird der Sozialismus aus einem deterministischen Geschichtsverständnis heraus – d.h. er wird als eine auf die kapitalistisch unweigerlich folgende historische Phase gesehen – und als technische Naturbeherrschung gedeutet. Diese Überbetonung der objektiven Faktoren lässt die subjektive Seite – der Wille der Beherrschten zur (Un-)Freiheit – aus dem Blick schwinden. 
Die Erklärungsansätze des orthodoxen Marxismus verstellen insofern die theoretische Erklärung des Nationalsozialismus, weil zwar einerseits die ökonomischen und herrschaftlichen Interessen der Großindustrie und deren Rolle bei der Förderung der Nationalsozialisten erklärt werden können, aber gerade nicht die millionenfache Unterstützung, die die NSDAP und ihre Organisationen erfahren. Marxistische Theorie war nicht fähig, einen Begriff des Nationalsozialismus zu entwickeln, weil sie die Integration des Bewusstseins der Subjekte nicht (ausreichend) reflektierte. Die Formulierung der Frage, warum die Menschen nicht die Revolution mach(t)en, kann im orthodoxen Marxismus nicht vorgenommen werden, weil die sozialistische Revolution immer schon vorausgesetzt ist. Daher ist das Aufwerfen der Frage, warum handeln die Menschen gegen ihre „objektiven“ Interessen so bedeutsam. 
Dies lässt sich exemplarisch an einer in den späten 1920er- bis frühen 1940er-Jahren theoretisch führenden Institutionen, dem in Frankfurt gegründeten Institut für Sozialforschung zeigen. Insbesondere mit der Übernahme der Leitung des Instituts durch Max Horkheimer (1895-1973) im Jahre 1931 kam einerseits eine programmatische Wende in der Ausrichtung des Instituts zum Tragen, auf der anderen Seite zeigte sich noch deutlich eine inhaltliche Kontinuität zu der vorausgegangenen Forschungspraxis unter dem orthodox-marxistischen Institutsleiter Grünberg. Auch unter Horkheimer fokussierte die Einrichtung weiterhin (und relativ ungebrochen) auf die an Marx orientierte theoretische Erklärung der zeitgenössischen Lage in den kapitalistisch fortgeschrittenen Ländern. Der substanzielle Wandel, der sich etwa in den durch das Institut neu aufgelegten Forschungen zur Autoritätseinstellung der Menschen zeigte, wurde nicht konsequent genug durchgeführt. Hieran lässt sich zeigen, welche Probleme bei der am traditionellen Marxismus orientierten Erklärung des Faschismus, insbesondere des Nationalsozialismus, existierten und warum auch das Institut für Sozialforschung – trotz seines umfassenden interdisziplinären Ansatzes – eine solche Erklärung allenfalls in Ansätzen entwarf.

 

Do. 27.04.2017, 18:30 Uhr, HSZ/201/U: “Monarchismus – Autoritarismus – Faschismus. Zur Konservativen Revolution in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts” (Richard Faber)

Autoritäre Staatsformen sind autokratisch und damit mon-archisch, ob in Form von Erb- bzw. Wahlmonarchien oder ganz ohne gekrönte Häupter. Ein Abglanz der – in Ungarn noch heute – hypostasierten „Krone“ fällt freilich auch auf Generäle, Präsidenten oder (Partei-)Führer, die als „Caudillo“, Duce“ oder eben „Führer“ total(itär) regieren. Im autoritären bis faschistischen Ungarn des Zwischenkriegs nannte sich das autokratisch regierende Staatsoberhaupt ausdrücklich „Reichsverweser“, also Königs-Stellvertreter.

Umgekehrt-dementsprechend hat sich das antik-römische Kaisertum aus der auf Dauer gestellten Diktatur des Parteiführers und Volkstribunen Gaius Julius Caesar entwickelt, wobei sein entscheidendes Amt das eines permanenten Imperators, also militärischen Oberbefehlshabers war. Zugleich waren Cäsar und seine Nachfolger auch Roms und seines Imperiums oberste Priester. Kaiser- und Königreiche besitzen stets eine ihre Autorität mitbegründende, -rechtfertigende und -stützende sakrale Dimension.

Noch im Fall autoritärer bis faschistischer Führer ist ein religiöser Faktor unübersehbar; auch in dieser Hinsicht ist eine Beerbung des Monarchismus zu konstatieren. Deswegen wird im Vortrag autoritäre und faschistische Herrschaft im Kontext von monarchischer – bis in die antike und mittelalterliche Vergangenheit zurück - behandelt. Die Selbstherrscher des 20. Jahrhunderts beriefen sich ausdrücklich auf sie; sie betrachteten sich als ‚zeitgemäße’ Erben von Kaisern und Königen bzw. Hohenpriestern. Um an Max Weber anzuknüpfen: Das persönliche „Charisma“ der Afterpropheten erstrebte ein quasipriesterliches Amtscharisma. Gerade Hitler tat es nicht unter dem Anspruch eines politischen Papsttums.

 

Do. 04.05.2017, 18:30 Uhr, HSZ/201/U: "Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und die Verdrängung des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Gesellschaft" (Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt)

Die Identität der BRD, W. Mommsen und J. Habermas zufolge, nach 1945 / 49 durch eine Konstellation von ideologischen Einstellungen gebildet: Ver­drängung der nationalsozialistischen Vergangenheit, gesellschaftlicher Indi­vidualismus, Stolz auf einen durch masochistische Arbeit erreichten Wirt­schaftserfolg, Anti-Kommunismus, Nachahmung US-amerikanischer Vorbil­der.

Die Verdrängung von Auschwitz ist grundlegend. Sie erfolgt durch die Ein­ordnung des Nationalsozialismus in die Geschichte nicht des Kapitalismus, sondern des Sozialismus, so daß die Verdrängung als Anti-Kommunismus auftritt. Die Verdrängung erfolgt durch die Betonung des Einzelnen im Gegensatz zur faschistischen Masse. Die Verdrängung erfolgt durch Arbeit: die Praxis des Masochismus. Die Verdrängung erfolgt durch Anpassung an die Siegermacht: USA.
Die Verdrängungen sind noch durch den Nationalsozialismus gesetzt. Die Aufklärungen der Barbarei durch die Kritische Theorie der Gesellschaft ha­ben dargelegt, daß Nationalsozialismus und Antisemitismus das Resultat ei­ner „Zerstörung der Vernunft“ sind: einer irrationalen, erinnerungslosen, hoffnungslosen Gesellschaft. Schon die Reaktion auf die Große Depression von 1929/33 war nicht die „Revolution von links“, sondern die „Revolution von rechts“ (Freyer). Die Täter vollbrachten bereits erinnerungslos eine Tat, die sie post festum nicht zu erinnern vermochten.
In der Verdrängung kehrt das Verdrängte wieder: nicht als Wiederholung, aber in jeweils neuen Formen. So mußte in der Geschichte der BRD die Verdrängung immer erneut, in immer neuer Form, geleistet werden – weil das Verdrängte immer neu aufschien.
Erinnerung ist nicht eine Information über Vergangenes, die die Gegenwart unberührt läßt. Das Bewußtwerden bewußtloser Verhältnisse kann einzig er­folgen durch die Verwirklichung einer Gesellschaft, in der die Menschen sich ihrer selbst und ihrer Verhältnisse bewußt sind. Die Erinnerung von Au­schwitz ist somit eine theoretische und praktische Utopie.

Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt lehrte von 1979 bis 2009 am Institut für So­ziologie der Universität Hamburg. Seitdem arbeitet er als freier Schriftsteller in Hamburg.

 

Do, 11.05.2017, 18:30 Uhr, HSZ/201/U: "Die Deutschen und die NS-Vergangenheit: Forschung und Öffentlichkeit von 1945 bis heute" (Dr. Kristina Meyer)

Die Deutschen und die NS-Vergangenheit: Forschung und Öffentlichkeit von 1945 bis heute
Die Vorlesung möchte einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungslinien und Marksteine sowohl in der wissenschaftlichen Erforschung der Zeit des Nationalsozialismus als auch in der Auseinandersetzung von Politik und Öffentlichkeit mit der NS-Vergangenheit liefern – von 1945 bis zur Gegenwart. Dabei soll herausgearbeitet werden, ob und in welcher Weise sich Entwicklungen in Forschung und Gesellschaft gegenseitig beeinflussten oder gar bedingten. Ziel der Vorlesung ist es, am Beispiel der wichtigsten Ereignisse und Kontroversen des wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit ein Bewusstsein für die jeweilige Zeitgebundenheit der Behandlung dieses Themas zu schaffen, aber zugleich den kritischen Blick auf die zuweilen als „Erfolgsgeschichte“ charakterisierte „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit zu schärfen. Der Schwerpunkt der Vorlesung liegt dabei auf der Entwicklung in der „alten Bundesrepublik“. Untergliedert ist die Vorlesung in vier grobe Phasen, die sich vorrangig an der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung orientieren, aber jeweils die Konjunkturen und Kontroversen der Forschung mit einbeziehen: die Phase der politischen Säuberung (1945-1949), die Phase der „Vergangenheitspolitik“ (1949-1959), die Phase der „Vergangenheitsbewältigung“ (1959-1979) und die Phase der „Vergangenheitsbewahrung“ (1979-heute).

Literatur
Classen, Christoph: Was bleibt vom „Dritten Reich“? Der Umgang mit dem Nationalsozialismus im geteilten Nachkriegsdeutschland, in: Süß, Dietmar/Süß, Winfried (Hg.): Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S. 311-330.
Frei, Norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005.
Kershaw, Ian: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, erw. und bearb. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1999. 
Reichel, Peter: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001.
Reichel, Peter/Schmid, Harald/Steinbach, Peter (Hg.): Der Nationalsozialismus – Die Zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009 (Lizenzausgabe der BpB: Bonn 2009).
Sabrow, Martin/Jessen, Ralph/Große-Kracht, Klaus (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003.

Do, 18.05.2017, 18:30 Uhr, HSZ/201/U: "Nationales Vergangenheitsrecycling in der Kulturindustrie–Die postnazistische Allianz der Generationen im deutschen Kollektiv" (Dr. Sonja Witte)

1959 spricht Adorno in seinem Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ von der kollektiven Schuldabwehr der Deutschen und benennt Verleugnung, Verkleinerung, Umlügen der deutschen Verbrechen als deren wesentliche Mechanismen. Heute hingegen ist die Betonung von Geschichtsbewusstheit und ‚Erinnerungsarbeit‘ selbst eine ‚Technik‘ der 
‚Vergangenheitsbewältigung‘ – seit den 1990er Jahren ist Auschwitz zu einem integralen Bestandteil deutscher Identität geworden. Der Vortrag wirft einen Blick zurück auf kulturindustrielle Produktionen der 00er Jahre und nimmt dabei die Verknüpfung der Imagination einer ‚guten‘ deutschen Nation im Postnazismus mit der einer kollektiven Versöhnung der Generationen in den Blick. In der Kulturindustrie inszenierte sich in diesen Jahren geballt eine neue Unbefangenheit der Liebe zu Deutschland, wobei insbesondere die 
dritte TäterInnengeneration als Medium einer nationalen ‚Verunschuldung‘ entworfen wurde. Anhand von Filmbeispielen werden diese intergenerativen Aspekte in kulturindustriellen Verarbeitungen deutscher Geschichte ausgeleuchtet. Hiervon ausgehend wird die These vertreten, dass diese Darstellungen des Generationenverhältnisses einem Modus folgen, der aus psychoanalytischer Perspektive als ein – für autoritäre Strukturen maßgebliches – ‚Einfrieren‘ der Adoleszenz beschrieben werden kann. Generative Konflikte werden ‚umgebogen‘, die Identifizierung mit einem starken Kollektiv fungiert als imaginärer Schutzraum. Wie sich dies kulturindustriell ausbuchstabiert wird anhand einer Analyse des Kinofilms „Das Wunder von Bern“ gezeigt.

Sonja Witte lebt in Berlin und ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin. Promoviert hat sie an der Uni Bremen zum Unbewussten in der Kulturindustrie (die Dissertation erscheint dieses Jahr im transcript-Verlag unter dem Titel „Symptome der Kulturindustrie – Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material“). Ihre Schwerpunkte sind u. a. Kritische Theorie, psychoanalytische Subjekt- und Kulturtheorie, Sexualitätsforschung. Kürzlich hat sie publiziert: 
„In Liebe gebor(g)en: Heilsversprechen der Resonanz als Symptom für das Unbehagen in der Kultur. Psychoanalytisch-kulturtheoretische Anmerkungen zu Hartmut Rosas Soziologie der Weltbeziehungen“, in: Christian Helge Peters / Peter Schulz (Hg.): Resonanzen und Dissonanzen – Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion. Bielefeld: transcript (im Erscheinen) 
„Vom Klassenkampf zum ‚Kinderschänder‘ – Anmerkungen zu wechselnden Vorzeichen von kindlicher Unschuld und Störgeräuschen“. In: Freie Assoziation – Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie, 19. Jahrgang, Heft 1/2016.
Politisch aktiv ist sie u. a. bei den „les madeleines“ www.lesmadeleines.net und der Zeitschrift „Extrablatt – Aus Gründen gegen fast Alles“ www.extrablatt-online.net.

 

Sa, 17.06.2017, 10 - 18 Uhr: Tagesseminar: "Die Krise des Neoliberalismus und die Kritik des Rechtspopulismus" (Prof. Dr. Gerhard Stapelfeldt)

--Bitte per Mail vorher verbindlich anmelden!!--

Der Neoliberalismus ist, nach dem Selbstverständnis der bedeutendsten Theoretiker der neuen Ordnung der Freiheit, die Theorie und Praxis des ge­sellschaftlichen Irrationalismus, des geschichtlichen Irrationalismus, des An­ti-Utopismus, der Zweckrationalität des Sozialatoms. Dem Einzelnen, so legt die neoliberale Theorie dar, bleibt in dieser Ordnung nur ein „freiwilliger Konformismus“, ein „Sich-fügen“ an die unbewußte Tradition.
Weil der Neoliberalismus eine Ordnung des Irrationalismus ist, tritt diese Ordnung mit dem dogmatischen Anspruch totaler Geltung auf: der ‚Globali­sierung’. Weil in dieser Ordnung aber die Einzelnen sich ihrer selbst und ihrer Verhältnisse nicht bewußt sind, sind sie gegeneinander total isoliert, treten im Wettbewerbskampf gegeneinander an und können sich ihre Einheit nur nach außen gegen Fremde bestätigen: der Neoliberalismus ist die Ord­nung einer konformistischen Volks-Gemeinschaft gegen Fremde-Feinde. Es ist die Ordnung des Gegensatzes von „Freund und Feind“ (Schmitt). Darin besteht die Wahlverwandtschaft von autoritärem Staat und neuer Freiheit.
Der Neoliberalismus ist, in seiner Tendenz zur Globalisierung, 2008 in die Krise geraten. Auf diese Krise antwortet die neoliberale Kritik des Rechtspo­pulismus, die die Volks-Gemeinschaft der Globalisierung entgegensetzt.
Der Tagesseminar beginnt mit einem Vortrag über diesen Zusammenhang von Neoliberalismus, Globalisierung und Gemeinschaft, von neoliberaler Krise und neoliberaler Kritik der Krise. Von dieser Kritik, die das Volk ins Zentrum stellt (AfD-Programm), wird zurückgegangen auf die Idee der Deut­schen als des „Urvolks“ (Fichte); auf die Idee der Gemeinschaft im Gegen­satz zur Gesellschaft (Tönnies); auf Freyers Apologie der „Revolution von rechts“ (1931); auf Fenichels und Adornos Aufklärungen des Antisemitis­mus. Am Ende wird zum Neoliberalismus fortgeschritten: zu Hayeks Kritik der Französischen Revolution und der Apologie der konformistischen Ge­meinschaft, die sich in einem darwinistischen Wettbewerbskampf befindet.

 

Do, 22.06.2017, 18:30 Uhr, HSZ/201/U: "Identität ist (k)ein Schicksal?! - Aktuelle Identitätspolitiken zwischen ,Multikulturalismus‘ und ,Ethnopluralismus‘" (Judith Goetz)

Politische Diskurse rund um Identität und den damit verbundenen Bedürfnissen nach Distinktion und Zugehörigkeit erfahren seit einigen Jahren eine neue Renaissance. Darin spiegelt sich einerseits die Anforderung an Individuen wieder, über eine (stabile) Identität zu verfügen, andererseits verfolgen identitätspolitische Angebote nicht zuletzt den Zweck durch Identifikationsmöglichkeiten bestimmte (teils nationalistisch oder völkisch definierte) Kollektive zu stärken. So ist die Herstellung von Zugehörigkeit mittels Identifikation stets auch mit Ein- und Unterordnung sowie Ein- und Ausgrenzung verknüpft.
In diese Politiken der mangelnden Identifikationsmöglichkeiten für Nichtangehörige der Mehrheitsgesellschaft und deren Nicht-Anerkennung intervenierten seit den 1980ern u.a. antirassistische Ansätze des Multikulturalismus. Durch den starken Fokus auf Aspekte der „kulturellen Bereicherung“ und der Vorstellung „gleichwertiger Kulturen“ in der Auslegung des Konzepts im deutschsprachigen Raum wurden nicht nur erneute Abgrenzungen begünstigt, sondern auch die Bekämpfung damit verbundener Ausgrenzungsmechanismen vernachlässigt. Dass derartige Denkmuster auch heute nicht an Aktualität eingebüßt haben, sondern sich teilweise weiter zuzuspitzen scheinen, zeigt sich u.a. in den Debatten rund um „cultural appropriation“. Dieses Konzept geht nicht nur abgrenzbaren, (aufgrund ihrer Benachteiligung) schützenswerten und damit scheinbar unveränderbaren Kulturen und kulturellen Identitäten aus, sondern versucht mögliche Vermischungen und Verwischungen in Form von Anleihen aus diesen Kulturen durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zu verhindern.
Ähnlicher Argumentationsmuster bedient sich auch das aktuell vor allem bei den „Identitären“ verbreitete Konzept des „Ethnopluralismus“, das ebenfalls von klar von einander abgrenzbarer „Kulturen“ oder „Ethnien“ ausgeht und dessen Vertreter_innen sich als Bewahrer_innen der „ethnokulturellen“ Identität ihres Volks inszenieren. Das (erkämpfte) Recht auf Differenz wird in dieser Adaption zur Pflicht zur Differenz umgedeutet.
Beide Bezugnahmen auf Kultur scheinen folglich die Vorstellung der Verschiedenheit bzw. Verschiedenartigkeit der Kulturen und der damit verbundenen Notwendigkeit „ethnokulturelle Identitäten“ auch zu schützen zu teilen. Im Vortrag mit anschließender Diskussion soll daher den Fragen nachgegangen werden,warum sich gerade jetzt identitätspolitische Ansätze erneuter Popularität erfreuen können, welche Bedürfnisse und Funktionen sie für Individuen aber auch Gruppen erfüllen und worin Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede der Bezugnahmen auf „Identitätspolitik“ von Links wie auch von Rechts bestehen.

Sa, 24.06.2017: Tagesseminar "Die Neue Rechte in Deutschland" (Felix Schilk)

--Bitte per Mail vorher verbindlich anmelden!!--

Seit den jüngsten Erfolgen des Rechtspopulismus und dem Aufstieg der AfD wird wieder viel über
die „Neue Rechte“ berichtet. Dabei handelt es sich im Gegensatz zur „alten Rechten“ um eine
Strömung, die rechtes Denken theoretisiert und in einem Kampf um gesellschaftliche und kulturelle
Hegemonie langfristig durchsetzen möchte. In Deutschland sind v.a. die Wochenzeitung „Junge
Freiheit“ sowie der Thinktank „Institut für Staatspolitik“ mit seinem angeschlossenen
Publikationsorgan „Sezession“ die aktuell einflussreichsten Akteure der Neuen Rechten.
In der medialen Auseinandersetzung kommt eine analytische Betrachtung, die Strategien und
Denkfiguren der Neuen Rechten zu unterscheiden weiß, jedoch meist zu kurz. Es dominieren
skandalisierende Oberflächlichkeit und hilfloses Argumentieren. Obwohl das Phänomen einer
Neuen Rechten sich seit über 50 Jahren in den (west-)europäischen Öffentlichkeiten eingerichtet
hat, scheinen die Auseinandersetzung mit ihr und das regelmäßige Erschrecken über ihre Erfolge
stets neu aufgerollt zu werden.
Das Tagesseminar will dagegen zu einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Neuen Rechten
in der Bundesrepublik anregen. Dabei werden Schwerpunkte auf ihre Stichwortgeber und
ideengeschichtlichen Ursprünge gelegt, um anschließend ihren Gestaltwandel in Abhängigkeit der
politischen Konjunktur und veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen aufzuzeigen.
In einem Einstiegsvortrag wird die Entstehung der Neuen Rechten in Deutschland und Frankreich
aus dem Geist der sog. „Konservativen Revolution“ und als Reaktion auf eine Wahrnehmung der
Moderne als Dekadenz und Zerfallserscheinung sowie ihr gebrochenes Verhältnis zum
altkonservativen Denken dargestellt. Ausgehend von dieser Diagnose werden wir uns im Laufe des
Seminars typische Elemente und Topoi neurechten Denkens erschließen sowie Gründe für
Wandlungs- und Transformationsprozesse diskutieren. An typischen und einflussreichen
Primärtexten aus unterschiedlichen Generationen neurechter Denker sollen Kontinuitäten im
Menschen und Gesellschaftsbild aufgezeigt und das stets instrumentelle Verhältnis der Neuen
Rechten zur Wirklichkeit (Metapolitik und semantische Besetzungsarbeit) analysiert werden. Ein
Blick in die wichtigsten Publikationsorgane soll schließlich zur selbstständigen und kritischen
Auseinandersetzung mit neurechten Positionen und Taktiken anregen. Abschließend werden
aktuelle Entwicklungen diskutiert und beispielhaft die Öffentlichkeits- und Propagandaarbeit der
Identitären Bewegung analysiert. Bei wenig Vorwissen empfiehlt sich die vorbereitende Lektüre
eines Überblickstextes, der per Mail zur Verfügung gestellt wird.

 

Wintersemester 2016/17

Veranstaltungsreihe "Subjekt - Gesellschaft - Krise"

22.02.2017, 18:30 Uhr Zur Kritik von Gesellschaft, Krise und Rassismus (Ivo Eichhorn) Raum: HSZ/101/U

Im Vortrag wird Rassismus als soziales Verhältnis im Sinne einer kritischen Rassismustheorie behandelt. Rassismus wird dabei unter seinem Herrschaftsaspekt als Mechanismus begriffen, der die Gesellschaft mit Momenten sozialer Kontrolle durchsetzt. Die Logik sozialer Kontrolle kann dabei von Praktiken der Diskriminierung und Segregation, der Entrechtung und Enteignung bis zum völligen sozialen Ausschluss reichen.
Zunächst wird in einem allgemeinen rassismustheoretischen Teil untersucht, wie der Rassismus sich in der Gesellschaft reproduziert, wie er sich in den vergangenen Jahrzehnten transformiert hat und an welche Praktiken und Institutionen er geknüpft ist.
In einem zweiten Teil wird sodann insbesondere der Frage nachgegangen, wie die Persistenz des Rassismus und seine weitere Ausbreitung in der gegenwärtigen politisch-ideologischen Krise zu analysieren, wie sein parteiförmig organisiertes Auftreten und die zunehmenden Pogromstimmungen zu deuten und zu kritisieren sind. Dabei soll auch eine Kritik an der theoretischen Gleichsetzung von Rassismus und Antisemitismus anhand der aktuellen faschistischen Tendenzen skizziert werden.

Audio: https://archive.org/details/EichhornRassismusInDerGegenwaertigenKriseDerGesellschaft

28.02.2017, 18:30 Uhr:  „Die größte List des Teufels…“ Zur Kritik der Verschwörungstheorien und des paranoiden Denkens (Florian Hessel) Raum: HSZ/101/U

Verschwörungsmythen sind fast allgegenwärtig: im Alltag, in der Populärkultur, in der Politik. Ihre Verfechter sind Linke und Rechte, Religiöse und Säkulare, Einzelne oder ganze Gruppen, und so ziemlich alle(s) dazwischen. Sie ‚wissen‘ wer das Wetter kontrolliert, die Fabrik nebenan schließt oder Krankheiten und Krieg in die Welt bringt, warum Elvis noch lebt, das World Trade Center in New York einstürzte oder Herrschaft, Ausbeutung und Leiden unser aller Leben prägen. Obwohl sich Verschwörungsmythen mit unendlich vielen Einzelheiten und Details umgeben, ist ihre Form die Erklärung der Welt aus einem Punkt, und mit klaren, übermächtigen, und gerade deshalb verborgenen und bedrohlichen Verantwortlichen. Innerhalb dieser Erklärungsmuster „besteht die größte List des Teufels […] gerade darin, den Glauben zu erwecken, er existiere überhaupt nicht“ (Léon Poliakov).

Die Veranstaltung wird anhand ‚klassischer‘ und aktueller Beispiele von den „Protokollen der Weisen von Zion“ bis zu 9/11 und den sog. „Mahnwachen für den Frieden“ und „Pegida“ in die Geschichte, Struktur und Funktion von Verschwörungsmythen und des paranoiden Denkens einführen. Zusätzliche Aufmerksamkeit wird dabei deren vielfach gegebenen Zusammenhang mit antisemitischen Ressentiments gewidmet. Im Mittelpunkt wird die Beschaffenheit und innere Verbindung von deren Form der Erklärung der Welt stehen: Warum entfalten Verschwörungsmythen, auch gerade in Zeiten der Krise und der Unsicherheit, Wirkungsmacht? Und lernen wir aus ihnen etwas über ein konkretes Ereignis, oder doch viel mehr über die Einzelnen und die Gruppen, die sie sich aneignen, und über den Zustand ihrer Gesellschaft?

Florian Hessel ist Sozialwissenschaftler und lebt in Hamburg. Er ist Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie und Sozialtheorie an der Ruhr-Universität Bochum und Gründungsmitglied von Bagrut. Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins e.V. www.bagrut.de

08.03.2017, 18:30 Uhr: Geschlecht und Nation - Zur ideologischen Funktion von Antifeminismus (Karin Stögner) Raum: WIL/A221/U

In gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Europa und den USA fällt auf, dass ein Erstarken des Nationalismus mit bestimmten Geschlechterstereotypen einhergeht. Der enge funktionale und strukturelle Zusammenhang von Nationalismus und Antifeminismus steht im Zentrum dieses Vortrages und wird anhand rechtsextremer Diskurse exemplifiziert. Eingebettet in eine allgemeine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse wird historischen und aktuellen Entwicklungen dieses Ineinanderwirkens nachgegangen. Auf die ideologische Funktion der Geschlechterverhältnisse und des Nationskonzepts wird ebenso eingegangen wie auf die von beiden Ideologien verdeckten Bedürfnisse und gesellschaftlichen Antagonismen. Dabei wird insbesondere auf den Aspekt der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung fokussiert und der Blick auf das Problem von Subjektivierung und Kollektivierung in spätkapitalistischen Gesellschaften gelenkt.

Karin Stögner lehrt an der Universität Wien und war 2016 Gastprofessorin für Kritische Theorie an der Universität Gießen. Sie ist Autorin von „Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen“ (Nomos 2014) und Koautorin des Bandes „AfD und FPÖ. Antisemitismus, Nationalismus und Geschlechterbilder“, der Ende April im Nomos-Verlag erscheint.

 

Sommersemester 2016

Ringvorlesung: NOWhere - Nirgendwo ins Irgendwo. 14 Kommentare zu utopischem Denken

jeden Dienstag 16:40 - 18:10 Uhr im HSZ/401/H

5. April 2016: Die Analyse des Nirgendwo - auf der Suche nach einem tragfähigen Utopiebegriff  (Tom Handrick)

Ob in Form eines Wunsch- oder eines Schreckensbildes, als kontrafaktische Alternative menschlichen Zusammenlebens ermöglichen Utopien eine kritische Perspektive auf die jeweils realhistorisch vorherrschenden Verhältnisse, aus der heraus neuartige Impulse für verändernde Denk- und Handlungsweisen gewonnen werden können. Allerdings sind die idealtypischen Konstruktionen utopischer Gemeinwesen auch der Kritik ausgesetzt.

Vor allem wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass sie als rationale Entwürfe nach abstrakten Maßstäben spätestens beim Versuch ihrer Verwirklichung an ihrer Realitätsferne scheitern müssten – zum Glück, so meinen die Kritiker, denn  aufgrund ihres Anspruchs, einer allumfassend realisierten gesellschaftlichen Harmonie, wiesen sie stets totalitäre Tendenzen auf.

Im Eröffnungsvortrag soll ein Utopiekonzept vorgeschlagen werden, welches sowohl die zentralen
Einsichten aus der Utopieforschung als auch die Einwände der Kritiker ernst nimmt. Dabei stellt
sich auch die Frage nach der Aktualität utopischen Denkens.


Weiterführende Literatur:
Thomas Schölderle, Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die
Kontroverse um ihren Begriff, Baden-Baden 2011
Rolf Schwendter, Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff, Berlin/Amsterdam 1994
Richard Saage, Hat die politische Utopie eine Zukunft? Darmstadt 1992
Wilhelm Kamlah, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteologie. Kritische Untersuchungen zum
Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit, Mannheim 1969
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (Bd. 1), Frankfurt a.M. 1959
Karl Popper, Utopie und Gewalt, in: ders, Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der
wissenschaftlichen Erkenntnis, Teilband 2, übers. v. G. Albert, Tübingen 1997, S. 515-527

Audio: https://archive.org/details/HandrickAnalyseDesNirgendwo050416

 

12. April 2016: Grenzen der Utopie – Von Freuds Unbehagen zu Adornos reformistischem Maoismus (Felix Riedel)

Utopien entstanden mit der Zertrümmerung des Glaubens an die Legitimität der feudalistischen Gesellschaft. Wenn die Gegenwart falsch war und ein Paradies nicht erwartet werden konnte, musste Gesellschaft neu erfunden werden. Utopie wurde in der Folge meist mit technologischen oder mit gesellschaftlichen Revolutionen verbunden. Der Sozialismus brachte als Utopie den „neuen Mensch“ mit sich, der nach Abschaffung des Privateigentums entstehe. 
Freuds “Unbehagen in der Kultur” diagnostiziert hingegen einen unauslöschlichen Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft. Er setzt utopistischen Gesellschaftsentwürfen des Sozialismus einen skeptischen Realismus entgegen. Utopie ist allenfalls ein halbwegs gelungener Kompromiss. Jenseits der individuellen Therapie will die freudianische Psychoanalyse bestimmte gesellschaftliche Praktiken wie Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch, Demütigung, Erziehung zur Scham, Beschneidung, Körperstrafen einzudämmen und somit Individuen eine freiere Wahl ermöglichen, die irrationalen Aspekte von Vergesellschaftung minimieren. Die manische Erwartung eines utopischen Gesellschaftszustands wird mit einer depressiven, realistischen Position konfrontiert. 
Das eigene Elend vom äußeren zu trennen verlangt aber nach einer Gesellschaftskritik, die dem Einwandern des Tauschzwangs bis ins Innerste des Sexuallebens folgt. An dieser objektiven Tendenz der Individualpsychologie arbeitet Adorno weiter. Adorno steht der zeitgenössischen, amerikanischen Psychoanalyse misstrauisch bis ambivalent gegenüber. Seine antikonformistischen Sexualvorstellungen sympathisieren mit dem Wilden, Fetischistischen, von Zivilisation nicht ganz erfassten und integrierten. Aufklärung wird zur „Entbarbarisierung“ des platten Landes, das bis in die Akademien reicht. Seine Utopie von einer Gesellschaft wird jedoch nicht primitivistisch oder antiintellektualistisch. Sie bedarf der irrationalen Utopie, die gegen die Realität sich setzt, wissend, dass sie nicht Realität werden kann: rien faire comme une bete. Nichtstun wie ein Tier. Und doch verkündet er, in einer befreiten Gesellschaft auch als Liftboy zu arbeiten – Reduktion als Möglichkeit der Rückkehr zur einfachen Arbeit, ohne Arbeit oder Härte zu verherrlichen, ohne auf die Sterne anzurennen, ohne Expansionszwang. Ideal wird die nicht verdinglichte Muße, die Arbeit sein kann, ohne sich dessen zu schämen. Adornos Utopie wendet sich mit diesem reformistischen „Maoismus“ gegen die Fortschrittsutopie des Sozialismus und der bürgerlichen Gesellschaften und stellt so das Freudianische Unbehagen der Kultur vom Kopf auf die Füße.

Literatur:
Andreas Arndt: Unmittelbarkeit. Bielefeld: transcript 2004 (Bibliothek dialektischer Grundbegriffe)
Erich Fromm: Überfluss und Überdruss. Via: http://vbgv1.orf.at/magazin/klickpunkt/focus/stories/237992/.


 

19. April 2016: Beyond Reproduction: revolutionäre Alternativen und utopische Spekulation zu Geschlechterverhältnissen und Reproduktionsarbeit (Felicita Reuschling)

Die Geschichte einer feministischen Perspektive in der Utopie ist relativ jung und von vielen Auseinandersetzungen bzw. Konflikten geprägt. Parallel zu den sozialen Bewegungen zu Beginn des 20.Jh. und nach 1968 haben sich entlang der sogenannten Frauenfrage Positionen zu Geschlechterverhältnissen und Lebensformen herausgebildet, die mit der traditionellen Arbeiterbewegung häufig in einem problematischen Verhältnis standen, obwohl sie den gemeinsamen Bezugsrahmen des Sozialismus teilten. Das Verhältnis von Marxismus, Feminismus und Utopie, dem ich mich widmen möchte, eröffnet eine Perspektive, die die Grenzen traditioneller sozialistischer Befreiungsvorstellungen in Frage stellte und damit spekulativ die Konzepte von Fortpflanzung und Geschlechterverhältnissen erweitern.

Audio: https://archive.org/details/ReuschlingBeyondReproduction

 

26. April 2016: Überlegungen zu den logischen und historischen Voraussetzungen utopischen Denkens (Heinrich Hofer)

Wird über den Mangel an Utopien heute gemurrt, ihre enorme Wichtigkeit für die politische Arbeit betont und der Tod der Utopie mit einem Schulterzucken bedacht oder gar lauthals begrüßt, so wird doch eher selten darüber geredet, was es denn nun sei, dessen Mangel zu beklagen wäre oder dessen Anwesenheit kritisiert werden müsste. Meist bleibt es dabei völlig unklar, warum eine rein fiktionale Darstellung überhaupt eine Wirkung über den reinen Lesespaß hinaus erlangen sollte.

Diese Frage weißt über die Inhalte konkreter Utopien hinaus und richtet die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Utopien überhaupt eine Wirkung entfaltet haben oder aber in welchen sich die Erwartungen, welche in sie gesetzt wurden, bitter enttäuschten. Sie richtet das Augenmerk auf das Subjekt und seine Möglichkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen und denkend zu überschreiten.
Um besser zu verstehen, was utopisches Denken ausmacht und welche Möglichkeit in ihm verborgen liegen, muss sich mit den Voraussetzungen beschäftigt werden, welche diesem Denken zugrunde liegen.

 

Heinrich Hofer ist Student der Philosophie und Geschichte sowie Mitglied im Referat politische Bildung.

Audio: https://archive.org/details/HoferLogischeUndHistorischeVoraussetzungen


3. Mai 2016: Die Vernunft-Utopien der Aufklärung (Gerhard Stapelfeldt)

Kant würdigt das Zeitalter der Aufklärung als das „eigentliche Zeitalter der Kritik“: „Religion“ und „Gesetzgebung“ hätten sich der „freien und öffentli­chen Prüfung“ durch die „Vernunft“ zu unterwerfen. Der Vernunft des Men­schen, aller Menschen, kommt die höchste Herrschaft zu – nicht Gott, nicht dem Monarchen: das ist die Utopie des revolutionären Liberalismus. Unter der Herrschaft der Vernunft schienen alle Menschen frei und gleich, schien die Geschichte der Gewalt durch einen Zustand „ewigen Friedens“ über­wunden, schien die einseitige Bereicherung von Handelsnationen überzu­gehen in das System des Wealth of Nations.
Die Aufklärung überwindet, durch theoretische und praktische Kritik, das Zeitalter der Metaphysik. In der metaphysischen Weltauffassung und Le­benspraxis besteht die Einheit der Welt in Gott. Der absolute Monarch per­sonifiziert die göttliche Rationalität; die Natur gilt als „göttliche Natur“; die Naturstoffe Gold und Silber gelten unmittelbar als gesellschaftlicher Reich­tum; Philosophie und Astronomie stützen sich auf den Beweis vom Dasein Gottes; der Einzelne erlangt in seiner Seele die Einheit mit Gott.
Indem die Aufklärung diese Welteinheit in Gott zerstört, treten in der Welt – theoretisch und praktisch – Subjekt und Objekt auseinander. Das Zeitalter der Aufklärung ist das Zeitalter der Entzweiungen: von Vernunft und Sinn­lichem, Natur und Gesellschaft, Staat und Gesellschaft, Gesellschaft und In­dividuum, Glaube und Wissen. Praktisch bedeutet dies: an die Stelle der ab­soluten Monarchie tritt die Republik, an die Stelle des Handelskapitalismus tritt der Industriekapitalismus; an die Stelle der Stände- tritt die Klassenge­sellschaft. Die Aufklärung vollendet sich in den bürgerlichen Revolutionen in Nordamerika (1776) und in Frankreich (1789).
Die Utopie einer Herrschaft der Vernunft ist widersprüchlich. Vernunft, nach Platon die Kritik von theoretischen und praktischen Voraussetzungen (Dog­men) durch Aufklärung ihrer Genesis, wird durch diese Herrschaft selbst zum Dogma: zu einem allgemeinen Unbewußten, zur „List der Vernunft“. So schlägt die vernunftgerichtete Revolutionierung der alten Gewaltverhältnisse in eine rationalisierte Gewalt um: in den Terror der Französischen Revolu­tion, in das Elend der englischen Arbeiterklasse.
Der gegenwärtig herrschende Neoliberalismus ist die vorläufig letzte Gestalt jener gesellschaftlichen Bewußtlosigkeit, die mit der Vernunft-Utopie der Aufklärung praktisch wurde: als invisible hand, als volonté générale. Der Neoliberalismus fixiert die Bewußtlosigkeit zum allgemeinen Irrationalen.

G. Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Soziologie-Professor an der Uni Hamburg

Audio: https://archive.org/details/StapelfeldtVernunftUtopienDerAufklrung

10. Mai 2016: Die Utopie und Romanform - Charles Dickens als Chronist des Verfalls utopischen Denkens (Björn Oellers)

Der Roman, so formulieren es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, ist das geschichtsphilosophische Widerspiel des Epos. Diese literarischen Formen haben verschiedene historische Voraussetzungen: Das Epos entsteht aus einer mythisch verstandenen Welt, der Roman aus der Auflösung dieses mythischen Weltverständnisses. 
Die literarische Form des Romans entsteht mit dem Verschwinden der mittelalterlich-feudalen Ordnung und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. In ihrem Mittelpunkt steht der Held der Handlung, das bürgerliche Individuum. Er ist der Bezugspunkt der Handlung, seine Erlebnisse und Erfahrungen bilden Anfang und Ende des Geschehens und begrenzen den Umfang des Erzählten. Die literarische Form des Romans enthält damit eine Utopie. Denn die genannten Aufgaben kann der Held nur erfüllen, wenn er als ein Eigenständiges gedacht ist, als ein Individuum vorausgesetzt ist: Der Akt des Erzählens schafft eine dem Individuum angemessene, auf das Individuum bezogene Welt. So ist der Roman ein literarischer Ausdruck der Trennung von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und Objekt. 
Georg Lukács thematisiert den Held des Romans als problematisches Individuum: Es ist stets der Gefahr ausgesetzt zugrundezugehen, seine utopischen Ideen können jederzeit in Illusionen umschlagen, denn dem Held wird zugemutet, was er nicht leisten kann: Als einzelnes Individuum eine Welt zu erschaffen. So ist mit der Utopie die Gefahr ihrer Zerstörung gesetzt, die Gefahr der Übermacht der Gesellschaft über die Einzelnen, literarisch: die Handhabung des Helden als erzählerisches Mittel zur Einrichtung der Erzählwelt.

Der utopische Gehalt des Romans hängt jedoch näher von den historischen Bedingungen ab, unter denen das jeweilige Werk entsteht. Ihren historischen Höhepunkt erreicht die Romanform im 19. Jahrhundert, in der Epoche des Liberalismus. Insbesondere in Großbritannien, dem ökonomisch weitestentwickelten Land dieser Zeit, gehört der Roman zu den Mitteln der Unterhaltung als auch der politischen Auseinandersetzung. Ein Autor, der diese Verbindung exemplarisch verkörpert, ist Charles Dickens. 
Im Vortrag wird die Verbindung von Utopie und Literatur anhand von Lukács´ Theorie des Romans dargestellt und an ausgewählten Romanen von Charles Dickens exemplarisch untersucht. Es zeigt sich eine historische Entwicklung des Verfalls von Utopie im Liberalismus: Enthalten die Romane zu Beginn von Dickens’ Schaffen noch gesellschaftliche Gegenentwürfe und Alternativen, so gehen diese in den folgenden Romanen verloren. An ihre Stelle treten die Zerstörung des Individuums und der Utopie, ja des Vermögens zu utopischem Denken.

Audio: https://archive.org/details/OellersUtopieUndRomanform

 

24. Mai 2016: Die Hieroglyphen der Moderne. Das kritische Abenteuer des Marxismus (Elfriede Müller)

Karl Marx hat die Geheimnisse der Herrschaft der Ware aufgedeckt. Bevor der Dogmatismus sich seiner Legende bediente, galt er lange als der scharfsinnigste Analytiker dieser Macht. Um die Aktualität des Marx’schen Denkens mit ihrer theoretischen Kohärenz nicht nur würdigen, sondern auch nutzen zu können, müssen wir den tiefen Schlaf der Orthodoxien abschütteln. Marx hat weder eine Philosophie vom Ende der Geschichte begründet, noch eine empirische Klassensoziologie, die den unvermeidbaren Sieg des Proletariats verkündete, noch eine Wissenschaft, die in der Lage wäre, die Weltbevölkerung auf den Weg des unabwendbaren Fortschritts zu leiten. Seine dreifache Kritik der historischen und der ökonomischen Vernunft, sowie des wissenschaftlichen Positivismus beziehen sich aufeinander und ergänzen sich. Um sich heute an Marx’ Werk zu erfreuen, muss mit dem aktuellen politischen und wissenschaftlichen Kanon seines Werks gebrochen werden.

Elfriede Müller ist Miglied der jour fixe initiative Berlin, welche seit über 20 Jahren politische Diskussionsveranstaltungen organisiert und  Bücher zu drängenden Fragen der Gesellschaftskritik publiziert. 2013 erschien der Band "Etwas fehlt" zum Themenkomplex der Utopien.
http://www.edition-assemblage.de/etwas-fehlt/

Audio: https://archive.org/details/MllerHieroglyphenDerMorderne

 

31. Mai 2016: Neoanarchism: Utopia Reawakened or the New Spirit of Capitalism? (Blair Taylor) [English]

Since the collapse of actually-existing socialism, anarchism has experienced a renaissance within the global left as the historical rival tradition to Marxism. A variety of recent left movements from the Zapatistas, the Spanish indignados, Argentine Piqueteros, to Occupy Wall Street have embraced what some have called neoanarchism, a politics that seeks to “change the world without taking power.” This lecture will offer a critical analysis of contemporary anarchist politics in theory and practice, focusing on three main themes. First, it will examine the content of neoanarchism and how it differs from classical anarchism: its particular political analysis, social critique, and utopian vision. Second, it will trace the major historical moments, movements, and intellectual debates which shaped its emergence and political logic – focusing especially on the experience of the New Left and New Social Movements, the anarchist turn in the 1990s by the radical ecology and alterglobalization movement, its hegemony within Occupy Wall Street. Along the way I will discuss the interplay of movements and ideas as various thinkers such as Murray Bookchin, John Zerzan, and David Graeber sought to reformulate anarchist theory in light of changing social and historical conditions.

The talk concludes with an exploration of neoanarchism’s latent affinities with neoliberalism; as neoanarchism developed primarily in opposition to state-led Fordist capitalism and its Marxist opposition, aspects of its social critique overlap with that of neoliberalism. This makes neoanarchism especially prone to recuperation – the process of incorporating radical ideas and movements into power – an important but overlooked factor contributing to both movement decline and the legitimization of power. Whereas the anti-corporate politics of the alterglobalization movement was recuperated as ethical consumption, the anti-statist communitarian politics of movements like Occupy Wall Street have also been absorbed into the neoliberal discourse of the post-crisis era. Echoed in the Tory Big Society program and the U.S. Tea Party manifesto, their shared emphasis on direct action self-provisioning by non-state actors, critique of “politics,” and emphasis on economic alternatives is increasingly attractive to both left and right. Thus just as New Left critiques of the hierarchical Fordist order lent ethical legitimacy to neoliberalism, neoanarchism offers a potential glimpse of a new spirit of capitalism perfectly adapted to the austerity conditions of “post” or “zombie” neoliberalism. In this light, neoanarchism’s allegedly impractical and utopian politics can also be understood as the vanguard of capitalist development, prefiguring not the new society but the means to modernize and stabilize the old.

audio: https://archive.org/details/TaylorNeoAnarchism

 

07. Juni 2016: Von Adorno zu Mao. Über die schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung (Jens Benicke)

Nachdem 1956 sowjetische Panzer den Aufstand gegen das staatskapitalistische Regime in Ungarn niedergeschlagen haben, entsteht aus dem Protest dagegen im Westen eine „Neue Linke“, die sich explizit gegen die „Alte Linke“, vertreten durch Stalinismus und Sozialdemokratie, wendet. Diese sich zuerst in den USA, in Frankreich und in Großbritannien entwickelnde Strömung entdeckt dabei auch die dissidenten Traditionen der ArbeiterInnenbewegung, vom Rätekommunismus bis zum westlichen Marxismus, wieder. Sie knüpft dabei an den utopischen Gehalt dieser weitgehend vergessenen und verdrängten Fraktionen an, nachdem die Realität des „Realsozialismus“ für sie keinerlei positiven Bezugspunkt mehr bieten kann.
Die Besonderheit der „Neuen Linken“ in der Bundesrepublik ist dabei ihr starker Bezug auf die Kritische Theorie. Durch die antiautoritäre StudentInnenbewegung der Sechziger Jahre kommt diese in Deutschland zum ersten Mal praktisch zur Geltung. An Adorno, Horkheimer und Marcuse orientierte studentische Theoretiker wie Hans-Jürgen Krahl, Frank Bökelmann u. a. schaffen es Mitte der Sechziger Jahre kurzzeitig im heterogen „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ (SDS) die Oberhand zu gewinnen und die dort ebenfalls stark vertretene traditionslinke Strömung zurück­zu­drängen. 
Doch dieser Zustand ist nur von kurzer Dauer, denn schon auf dem Höhepunkt der studentischen Proteste entstehen aus der antiautoritären Bewegung heraus neoleninistische Strömungen, die die Kritische Theorie als vermeintlich „kleinbürgerlich“ zurückweisen. Diese Entwicklung fällt zeitlich zusammen mit einer­seits erkennbaren Niederlagen der Bewegung, so verabschiedet etwa der Bundestag die Notstandsgesetze und andererseits einer deutlichen personellen Ausweitung der Proteste. Die bis dato überschaubaren antiautoritären Gruppen stoßen erkennbar an ihren Grenzen. Die folgende „schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung“ und die Konstitution der mao-stalinistischen K-Gruppen bedeutet die endgültige Abkehr eines großen Teils der Protestbewegung von den antiautoritären Vorbildern und den von ihnen selbst bis vor kurzen vertretenen Positionen. Aus der antiautoritären Bewegung entwickeln sich autoritäre Kaderorganisationen, die sämtliche emanzipatorischen Errungenschaften der Revolte in ihr Gegenteil verkehren. Auch den anderen „Zerfallsprodukten“ der Protestbewegung, ob Spontis, Neue Frauenbewegung, bewaffnete Gruppen oder die an der DDR orientierte DKP, geling es kaum die Utopie einer anderen und besseren Gesellschaft mit solch einer Vehemenz in die gesellschaftliche Diskussion zu tragen, wie dies der antiautoritären StudentInnenbewegung für eine kurze Zeit gelang.

Audio: https://archive.org/details/BenickeAntiautoritareBewegung


14. Juni 2016: Reparaturbetrieb und Krisenverwaltung oder Ausweg in eine andere Gesellschaft? 'Subpolitiken' zwischen Reproduktion und Überschreitung kapitalistischer Verhältnisse (Tino Heim)

Unter Subpolitiken versteht man eine Vielzahl von Formen von zivilgesellschaftlichem, kulturellem und politischem Engagement unterhalb der Ebene der großen Politik – Repair-Cafés, NGOs, Umsonstläden, Kultur- und Bildungsvereine und verschiedenste Kooperativprojekte lassen sich hier gleichermaßen einordnen. Nach der nachhaltigen Diskreditierung gesellschaftlicher Alternativentwürfe durch den kollabierten Staatssozialismus galten solche Ansätze in den 1990er Jahren als vielversprechender Ausweg gesellschaftlichen und politischen Engagements, versprachen sie doch, die Welt auch jenseits großer emanzipatorischer Erzählungen und revolutionärer Anstrengungen in konkreten Lebensbereichen und konkreten Betroffenheiten etwas besser zu machen. Eben diese Verheißung, die Welt verändern zu können, ohne die Welt verändern zu müssen, war zugleich auch der Grund, warum subpolitische Ansätze von verschiedenen radikaleren linken Gruppierungen oft als ‚Reparaturbetrieb für ein kaputtes System‘ abschätzig betrachtet und eher abgelehnt wurden. Nicht umsonst waren zugleich neoliberale Intellektuelle oft dezidierte Befürworter subpolitischer Praxen. In letzter Instanz sind Subpolitiken letztlich immer beides, Reparaturbetrieb und Experimentierfeld für andere Formen gesellschaftlicher Praxis. Denn wo sollen Ansatzpunkte für andere Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens entstehen, wenn nicht in der bestehenden Gesellschaft, deren soziale, kulturelle und ökologische Destruktionseffekte sie zugleich ausgleichen und so tatsächlich als Reparaturbetrieb wirken. Wenn Subpolitiken mehr als das sein sollen, brauchen sie auch eine irgendwie geartete utopische Orientierung hinsichtlich der Frage, welche andere Welt möglich wäre.

Der Vortrag soll neben einer Skizze der Probleme, Widersprüche und Potenziale subpolitischer Praxen ihr ambivalentes Verhältnis zur Orientierung an einer Umwälzung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse klären und dabei weniger klare Antworten, sondern vielmehr Anstöße zu kontroversen Diskussionen geben.

Audio: https://archive.org/details/HeimSubpolitik

 

21. Juni 2016: »… das noch nicht Seiende, schwarz verhängt« – Kunst als Utopie: Walter Benjamin und Theodor W. Adorno (Christoph Hesse)

Kunst als Utopie, das klingt auf Anhieb nach der Bebilderung eines Schlaraffenlands, das in der wirklichen Welt unmöglich und darum in der Kunst, einer Welt bloßen Scheins, gut aufgehoben sein soll. »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst«, tönt es bei Schiller. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, so etwa lautet dieser fatale Vers in volkstümlicher Übersetzung. Doch selbst eine Kunst, von der man nichts weiter erwartete, als daß sie die Menschen deren alltäglich erfahrene Mühsal leichter ertragen lasse, indem sie ihnen von Zeit zu Zeit einen winzigen Ausblick auf ein glücklicheres, zuletzt nicht einmal mehr durch die Erwartung des Todes beschwertes Leben im erhofften Jenseits eröffnet – selbst solche Kunst schösse womöglich über das ihr gesteckte Ziel hinaus. Allein schon durch seine materielle Existenz in der bestehenden Welt, der es abgerungen wurde, deutet ein Kunstwerk darauf hin, daß das Nichtseiende, das es vorstellt, durchaus sein könnte. Seine eigene Wirklichkeit zeugt für die Möglichkeit des Möglichen. Jedes Kunstwerk, ungeachtet seiner expliziten Bedeutung, ist als solches buchstäblich utopisch. Gegenüber der Wirklichkeit, deren Elemente es verarbeitet, behauptet es sich als eine ihr entrückte Wirklichkeit eigener Ordnung, die in jener keinen Ort hat. Sogar ein erklärtermaßen realistisches Werk kann nicht umhin, die wirkliche Welt zu entstellen; zumindest insofern, als es sie an einen anderen Ort stellt, in eine von ihm selbst geschaffene, wiewohl nur scheinbare Welt, in der noch ganz andere Kräfte wirken.
Andererseits kann kein Kunstwerk im handgreiflichen Sinne utopisch sein. Dazu müßte es sich über die Erfahrung der Wirklichkeit hinwegsetzen, der sein Dasein und auf vielfach vermittelte Weise auch seine ästhetische Konstitution entspringt. Kein daseiendes Kunstwerk, sagt Adorno, sei des Nichtseienden positiv mächtig. Das unterscheidet es von den Symbolen der Religionen, die solche Transzendenz beanspruchen. Der Kunst aber sei »ihre Utopie, das noch nicht Seiende, schwarz verhängt«, darum bleibe sie »durch all ihre Vermittlung hindurch Erinnerung, die an das Mögliche gegen das Wirkliche, das jenes verdrängte, etwas wie die imaginäre Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte, Freiheit, die im Bann der Necessität nicht geworden, und von der ungewiß ist, ob sie wird.«
Was Kunst als Utopie zu bedeuten habe – und zwar nach dem Scheitern der künstlerischen Avantgarde-Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts und zumal nach den weltgeschichtlichen Katastrophen, die jedes Versprechen künftigen Glücks dementieren –, diese Frage soll hier zunächst in einem Rückblick auf die Moderne erörtert werden: namentlich anhand der ästhetischen Theorien Benjamins und Adornos, deren enge gedankliche Verwandtschaft ihre im einzelnen unterschiedlichen Auffassungen nur um so deutlicher hervortreten lassen. Inwieweit diese dem eigenen Anspruch nach historisch-materialistischen und gleichwohl auch utopischen Konzeptionen nicht nur über jene abgelebte Epoche, sondern womöglich noch über das hinausragen, was aus Resignation oder Verlegenheit Postmoderne genannt wird, bleibt zu sehen.

Audio: https://archive.org/details/HesseKunstAlsUtopie


28. Juni 2016:  Volksgemeinschaft: Vernichtung als Utopie (Gerhard Scheit)

Was immer die nationalsozialistische Propaganda von der Volksgemeinschaft nach dem Endsieg oder die djihadistische Propaganda vom Selbstmordattentäter bei den himmlischen Jungfrauen sich ausmalt – es ist nur ein Deckbild für das Immergleiche: Vernichtung um der Vernichtung willen.

Gehen die Klassen in der Gemeinschaft und die Produktionsverhältnisse in der Vernichtungspolitik auf, wird zugleich die Phantasmagorie des erhabenen Körpers erzeugt – erhaben über die Triebbefriedigung und den Schmerz: die zur Perfektion ertüchtigte Leiche – Ergebnis davon, dass die Individuen, in ihrem Bewusstsein den Rechts- und Vertragsbeziehungen entbunden, vollständig zur Masse geworden sind, mit Freud gesprochen: „ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben“. Der libidinös besetzte Leib, der dem einzelnen Verliebten als erhaben erscheint, nur um die geschlechtliche Lust noch zu steigern, verschwindet in der „Ästhetisierung der Politik“ (Benjamin), und die Erhabenheit wird zum gepanzerten, gestählten Körper, in dem die Masse sich spiegelt. Er ist nur die Hülle der Opferbereitschaft und kennt deshalb keinen Schmerz, wie der tote Körper. Er ist das Ideal. Indem die Massenindividuen sich miteinander identifizieren, stellt sich das Opfer zusammen mit der Vernichtung derer, die wirklich oder vermeintlich zum Opfer nicht bereit sind, als Selbstzweck heraus.

Wahre Utopie wäre demgegenüber „die opferlose Nichtidentität des Subjekts“ (Adorno).

 

5. Juli 2016: Neoliberaler Anti-Utopismus und Unwirklichkeit (Gerhard Stapelfeldt)

Der nach der Großen Depression von 1929/33 zuerst in den USAdurchge­setzte Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft systemrational durch einen tech­nokratischen Staat zu lenken, brach in den Ländern der OECD in den Krisen von 1971/81 zusammen. Der analoge Staatsinterventionismus der Entwick­lungsländer wurde durch deren Schuldenkrise nach 1975/82 beendet. 1990 brach endlich die staatliche Planwirtschaft der RGW-Staaten zusammen. An die Stelle dieser Formen des Staatsinterventionismus trat der Neoliberalis­mus, der sich nach 1990 sich zur ‚Globalisierung’ verallgemeinerte.
Gegen den staatsinterventionistischen System-Rationalismus hat der Neoli­beralismus, theoretisch und praktisch, das Dogma gesellschaftlicher Irratio­nalität gesetzt. Die Konsequenz dieses Dogmas ist, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse unerkennbar sind: sie seien weder in Rücksicht auf ihre histori­sche Genese noch in Rücksicht auf eine Vernunft-Utopie zu überschreiten. Ist die Gesellschaft als Ganze weder erkennbar noch steuerbar, so ist das ‚Ende der Geschichte’ gekommen und das ‚Ende der Utopie’. Es bleibt al­lein: ein „freiwilliger Konformismus“ der Bürger der neoliberalen Volks-Gemeinschaft, die sich gegen alles Fremde nach dem Gegensatz von „Freund und Feind“ (C. Schmitt) verhält.
Wenn, nach Hegel, allein das Wirklichkeit heißen kann, was vernünftig ist, wenn der Begriff der Wirklichkeit der Verwirklichung der Vernunft – einer Gesellschaft, in der sich die Menschen ihrer selbst und ihrer Verhältnisse bewußt sind – vorbehalten ist, dann ist der Neoliberalismus die Ordnung der Unwirklichkeit. Gegen den Neoliberalismus scheint nur ein Widerspruch möglich: der neoliberale – die „konformistische Revolte“.
Einerseits tritt der Neoliberalismus als Erbe vor allem der deutschen Gegen­aufklärung des 19. Jahrhunderts auf. Andererseits ist er auch der Erbe der liberalen Utopie einer Herrschaft der bewußtlosen Vernunft: der Neolibera­lismus vollendet die liberale „List der Vernunft“ zu einer „List ohne Ver­nunft“. Nicht der Neoliberalismus hat die Vernunft-Utopien liquidiert, son­dern die Vernunft-Utopien vollenden sich durch ihre Widersprüche in ihrer Selbstnegation: im Neoliberalismus. Im neuen ‚Gehäuse der Hörigkeit’ scheint gegen gesellschaftliche, ökonomische Gewalt kein vernunftgegrün­deter Widerspruch und Widerstand möglich.
Aber der Neoliberalismus enthält die Sozialutopien von Platon bis Kant und Marx noch in der Form ihrer Negation. So besteht die utopisch gerichtete Theorie und Praxis heute darin, die Geschichte der Selbstnegation der Uto­pien zu erinnern – um der „Einlösung der vergangnen Hoffnung“ willen.

G. Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Soziologie-Professor an der Uni Hamburg.

Audio: https://archive.org/details/StapelfeldtNeoliberalerAntiutopismusUndUnwirklichkeit


12. Juli 2016: Möglichkeiten der Utopie heute - Formen & Funktionen von Utopiebewusstsein (Alexander Neupert)

Die Aktualität von Utopie ist ein beliebtes Thema für politische und akademische Debatten. Leben wir “nach dem utopischen Zeitalter”, wie es 1991 der Historiker Joachim Fest nach dem Niedergang der Sowjetunion vertrat?
Oder befinden wir uns nach wie vor “in der Gegenwart der Utopie”, wie 2011 der Philosoph Julian Nida-Rümelin meinte?

Derart umfassende Thesen lasen sich schwer beurteilen, sie provozieren Gegenfragen: Was wird unter Utopie verstanden? Ist die Rede von einem literarischen Genre (Roman-Utopien)? Geht es um Kommunen, Gemeinschaften u.ä. (Siedlungs-Utopien)? Oder ist die Rede von politischen Fernzielen (Befreiungs-Utopien)? An die Frage der Form knüpft die nach Funkionen an.

Handelt es sich bei Roman-Utopien um fiktionale Gegenbilder zu einer jeweiligen Gegenwart, so überschritten die
Siedlungsexperimente des 19. Jahrhunderts, die Marx und Engels als utopistischen Sozialismus bezeichneten, die
Grenze zur Praxis. Politische Utopien im engeren Sinne teilen mit ihren Vorformen diesen Gegenwarts- und Praxis-Bezug.

Vor allem im 20. Jahrhundert gab es viele Ansätze, um den Begriff der Utopie als ein Bewusstseinsphänomen zu bestimmen. Utopisch würden demnach Vorstellungen heißen, die Mißstände ihrer Gegenwart kritisch überschreiten, die vorhandene Möglichkeiten benennen, die Geschichte als Praxis behaupten und zum Handeln motivieren. Wo zeigt sich also Utopiebewusstsein?

Utopien sind ein soziales Phänomen, sie "wollen als Haltungen gesellschaftlicher Gruppen aus der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit begriffen sein“ (Max Horkheimer). Daran anknüpfend soll im Vortrag nach den TrägerInnen utopischen Bewusstseins heute gefragt werden: Worin zeigt sich heute Utopiefähigkeit? Inwiefern ist Utopie in Krisenzeiten Alternative zu Ideologien?

 

 


Wintersemester 2015/16

30. Januar 2016: Einführung in die Psychoanalyse und ihre Denkweise (Dr. Markus Brunner, Sigmund-Freud-Universität Wien)

Raum: ZEU/160/H

Uhrzeit: 11,30 Uhr

Von der Psychoanalyse gibt es mittlerweile viele Versionen und v.a. im Alltagsdiskurs viele Vorstellungen davon, wie die Psychoanalyse tickt. Ich will in diesem Vortrag in eine Psychoanalyse fern von schematischen Entwicklungslogiken, Kindheitsdeterminismen und Pathologisierung einführen und ein ungemein dynamisches Denken präsentieren, das es erlaubt, der Entstehung von Subjektivität innerhalb von je spezifischen sozialen Kontexten nachzugehen. Mithilfe der Freudschen Begriffe der „Nachträglichkeit“ und der „Schiefheilung“ kann nachvollzogen werden, wie sich Gesellschaft in das Innerste der Subjekte einschreibt und wie sich Psycho- und Soziodynamiken ineinander verschränken. 

 

Vortragsreihe: Robinson und die Krise. Zur Kritik von Gesellschaft, Wissenschaft und Ökonomie

14. Januar 2016: Das Kapital als unbegriffenes soziales Verhältnis (Manfred Dahlmann)

Raum: HSZ/103/U

Uhrzeit: 19 Uhr

Jeder glaubt zu wissen, was gemeint ist, wenn vom Kapital die Rede ist. Selbst die Auffassung, dass es sich bei dem Kapital nicht um ein Ding, wie etwa dem Geld, sondern ein soziales Verhältnis handelt, ist, unter Linken zumindest, noch einigermaßen verbreitet. Doch bohrt man weiter nach und fragt, worin dieses Verhältnis (das im Grunde schon dem Geld als Ding zugrundeliegt) denn besteht, werden die Antworten so spärlich, dass sie kaum noch aufzufinden sind. Das ist auch kaum verwunderlich, und darum wird es in diesem Vortrag gehen: Denn je näher man sich der Antwort auf diese Frage nach dem vom Kapital generierten sozialen Verhältnis nähert, um so weiter muss man sich von den liebgewordenen Vorstellungen lösen, man könne dieses praktisch oder ethisch, auf jeden Falle mithilfe einer anderen als der bisher verfolgten Politik des Staates, im Sinne eines wie auch immer verstandenen Besseren, steuern.

Wer sich schoneinmal inhaltlich auf den Vortrag vorbereiten möchte, sei hier auf einen Beitrag von Manfred Dahlmann verwiesen, welcher Mitte Dezember in der Zeitschrift sans phrase erscheint.

Audio: https://archive.org/details/DahlmannUnbegriffenesVerhaltnis

 

5. Januar 2016: Ökonomische Krisis und gesellschaftlicher Autoritarismus. Von der Krisis des Liberalismus zur Krisis des Neoliberalismus (Prof. Gerhard Stapelfeldt)

Raum: HSZ/E05/U

Zeit: 19 Uhr

Mit der Großen Depression von 1873/79 bricht der klassische Liberalismus der bürgerlichen Revolutionen zusammen. Die Epoche des Imperialismus be­ginnt, die bis zum Ersten Weltkrieg und zur Großen Depression von 1929/33 dauert. Seit dem Imperialismus zeichnen sich alle Formen der bürgerlichen Politik-Ökonomie aus durch eine theoretische und praktische Ideologie, die den utopischen Gehalt des Liberalismus hinter sich läßt. An die Stelle der vordem proklamierten Herrschaft „List der Vernunft“ tritt eine „List“ ohne „Vernunft“: ein gesellschaftlicher Irrationalismus, auf dessen Grundlage ein sozialatomistischer Rationalismus möglich ist. Im Inneren der Nationen wird ein gesellschaftlicher und politischer Autoritarismus, im Verhältnis nach außen ein aggressives Freund-Feind-Verhältnis aufgerichtet. Im angelsächsi­schen Staatsinterventionismus wird dieser Zusammenhang unter dem Mantel des Pazifismus und des Wohlfahrtsstaats fortgeführt. Im Nationalsozialismus resultiert die Entwicklung im „SS-Staat“ (Kogon) und im Zweiten Weltkrieg. Der gegenwärtig herrschende Neoliberalismus geht von dieser Entwicklung aus, setzt sich ihr scheinbar entgegen, um durch den Gegensatz das Ver­drängte in neuer Form zu reproduzieren. Im nach-utopischen System des irrationalen Rationalismus ist, so scheint es, der theoretischen und prakti­schen Kritik der Boden entzogen: das Bestehende bietet weder die Aussicht auf seine Vorgeschichte noch auf einen „neuen Gesellschaftszustand“ (Marx). Das zeigte sich erstmals in der „konformistischen Revolte“ (Hork­heimer) von 1933.

Gerhard Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Professor am Institut für Soziologie der Universität Hamburg

Audio: https://archive.org/details/StapelfeldtKrisisAutoritarismus160105

 

16. Dezember 2015: Die Grenzen der Schrumpfung (Marco Bonavena & Johannes Hauer)

Raum: HSZ/103/U

Zeit: 19 Uhr

In den letzten Jahren wurden viele Illusionen über den Kapitalismus auf schmerzhafte Weise zerstört: Die Weltwirtschaft steckt in der Krise, der Abbau von Sozialsystemen und die Verschärfung von Konkurrenz und Verelendung sind die Folge. Es mehren sich Stimmen, die nach Alternativen zum Kapitalismus fragen, unter ihnen auch die zusehends populärer werdende Idee einer Postwachstumsökonomie. Um sie soll es gehen: Wir wollen zeigen, dass die Vertreter_innen von „Degrowth“ keine überzeugenden Antworten auf die drängenden Probleme der bürgerlichen Gesellschaft finden können und warum das so ist – weil sie keines der grundlegenden Verhältnisse dieser Gesellschaft in Frage stellen. In Abgrenzung zur Empörung über die Dominanz des „Wachstumsdenkens“ in unserer Gesellschaft wollen wir den Zusammenhang von sozialökologischer Katastrophe und kapitalistischer Akkumulation in Ansätzen herausarbeiten und Vorschläge für eine politische Perspektive jenseits der Schrumpfung machen.

Die Referenten Marco Bonavena und Johannes Hauer sind Teil der IG Roboterkommunismus in der Leipziger translib. Die IG widmet sich der Kritik der gegenwärtigen Alternativökonomie.

 

10. Dezember 2015: Zur Kritik der Neoklassik (Robert Fechner)

Raum: HSZ/E01/U

Zeit:19 Uhr

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2007/08 erfuhr die akademisch hegemoniale Neoklassik einen Legitimationsschaden, der ihr nicht geschadet hat. Zwar wurde landauf und landab in den Feuilletons und Wirtschaftsteilen der großen deutschen Tageszeitungen der nicht existente theoretische Mehrwert, als auch die nicht vorhandene praktische Anwendbarkeit der marginalistischen Prämissen bemängelt, doch hat dies bis heute keine Auswirkungen. Im Gegenteil: Hans-Werner Sinn darf bis heute die Menschheit mit seinem Unsinn belästigen.

Nebst einer Rekonstruktion der neoklassischen Prämissen, möchte das Referat anhand von drei Kernproblemen kapitalistischer Vergesellschaftung deren Erklärungsunfähigkeit und Ideologie einer Kritik unterziehen: das Problem des Geldes, das der Dynamik und das der Krise. Soweit eine jedwede materialistische Kritik immanent vorgeht, ist sie auch historisch situiert, weshalb die historische Genese der Neoklassik in der Abwehr von Ausbeutungstheorien im Zeitalter von Imperialismus und entstehender Massengesellschaft nachzuzeichnen ist.

 

2. Dezember 2015: Historische Bedingungen, Funktionen und Grenzen keynesianischer Krisenverwaltung
– oder: Warum ein ‘Zurück zu Keynes’ heute kein Ausweg aus der Krise sein kann. (Dr. Tino Heim)

Raum: HSZ/103/U

Zeit: 19 Uhr

Im 20. Jahrhundert versprach der Keynesianismus einen Ausweg aus der Kapitalverwertungskrise der 1920er und 30er Jahre und brachte nach dem 2. Weltkrieg auch eine ungekannte Ausdehnung der Massenproduktion und des Massenkonsums in Europa und Nordamerika. Das einfache und wirksame Rezept, durch höhere Löhne und Staatsausgaben für Bildung, Infrastruktur und Kultur (aber v.a. auch für das Militär) Produktion und Massenkaufkraft zu steigern, um Unterkonsumtionskrisen zu vermeiden, schien die endlich gefundene Zauberformel, um alle Widersprüche und Konflikte des Kapitalismus in Harmonie aufzulösen: Profitmaximierung, Staatsexpansion und der Wohlstand der Lohnarbeitenden sollten fortan im Gleichschritt des Wachstums einer frohen gemeinsamen Zukunft entgegen gehen. Kein Wunder also, dass in der aktuellen Krise ganz verschiedene Lager unisono um ‚die Rückkehr von Keynes‘ flehen – vom Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugmann über weite Teile der neuen Rechten in Europa bis zu SYRIZA und großen Teilen der deutschen Linken. Genauer betrachtet waren aber weite Teile der Krisenpolitik seit 2008 de facto keynesianisch. Und waren nicht selbst die neoliberalen ‚Reaganomics‘ der 1980er in manchen Aspekten nur eine verkappte militaristische Variante von Keynes‘ Modell des ‚Deficit Spending‘? Anscheinend ist die Wundermedizin nie wirklich abgesetzt worden, sie wirkt nur nicht mehr.

Das wirft einige Fragen auf: Was waren die Erfolgsbedingungen des Keynesianismus in den 1930er Jahren und warum hielt Keynes den ‚New Deal Hitlers‘ für erfolgreicher als den von Roosevelt? Wie funktionierte der keynesianische Kapitalismus in seiner Blütezeit von 1945-1967 und waren diese Jahre wirklich eine Epoche allgemeiner Glückseligkeit? Warum kam es in den späten 1960er Jahren zu so gravierenden soziokulturellen und politischen Krisenmanifestationen, und warum ließ sich die ökonomische Krise der 1970er Jahre rein keynesianisch nicht mehr bewältigen? Kann heute eine weitere Anreizung zur Beschleunigung und Ausweitung von Produktion und Konsum tatsächlich die Lösung der globalen sozialen und ökologischen Probleme sein, wo die kapitalistischen Zentralstaaten doch mit dem global produzierten stofflichen Reichtum schon jetzt nichts anderes mehr anzufangen wissen als ihn massenhaft zu vernichten, um möglichst schnell noch mehr zu produzieren, um es noch schneller zu vernichten? Ahnte vielleicht sogar schon Keynes selbst die Grenzen des nach ihm benannten Akkumulationsmodells? Diese und andere Fragen will der Vortrag anhand einer immanenten Kritik dieser Variante der neoklassischen Ökonomie diskutieren.

Audio: https://archive.org/details/HeimKeynes1512021

 

26. November 2015:  Zum Verhältnnis von Gesellschaft und Ökonomie (Franz Heillgendorff und Marvin Gasser)

Raum: HSZ/201/U

Zeit: 19 Uhr

Zu Zeiten, als die Volkswirtschaftslehre noch politische Ökonomie genannt wurde, war sie bemüht, den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse zu erforschen. Die durch Adam Smith und David Ricardo analysierten ökonomischen Kategorien verwiesen auf einen utopische Horizont, der dem der Aufklärung in nichts nachstand: Gegen den ungleichen Tausch des Merkantilismus, die Bereicherung an den Kolonien, setzten sie den Tausch von Äquivalenten. Die politische Ökonomie war auf ihrem Höhepunkt somit eine Gesellschaftswissenschaft, durch welche umfassende Kritik an der vorgefunden Krise merkantilistischer Ökonomie formuliert wurde. Durch die Entfaltung der bürgerlichen Produktionsweise, so die Annahme, würde die Konstitution der gesellschaftlichen Gleichheit der Menschen und ihre Sozialintegration ökonomisch geleistet werden können. In der Arbeitsmenge als objektiven Wertmaßstab erblickten beide die Basis des gerechten Tausches, indem sich niemand mehr fremde Arbeit in Warenform aneignet, als er hingibt. Die Utopie des Liberalismus setzt so an die Stelle der gewaltsamen Bereicherung und persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse des Feudalismus eine strukturelle Gewalt, in der sozialökonomische Ungleichheit entgegen dem statischen Feudalsystem allein auf mangelndem Fleiß (Arbeit) und fehlender Sparsamkeit (Triebverzicht) beruht.
Im Vortrag soll es um die historischen und gesellschaftstheoretischen Voraussetzung der politischen Ökonomie gehen und eine Kritik entworfen werden, welche den Zusammenhang von Gesellschaft, Wissenschaft und Ökonomie entfaltet.

 

5. November 2015: Lars Quadfasel: Von der Not und der Wendigkeit - Ideologiekritik in der postideologischen Gesellschaft

Ort: AZ Conni Dresden (Rudolf-Leonhard-Straße 39, 01097 Dresden)

Zeit: 20,00 Uhr

Als Marx und Engels ihr Traktat über die »Deutsche Ideologie« schrieben, hätten sie sich wohl kaum träumen lassen, welcher Beliebtheit sich dieser Begriff einmal erfreuen sollte – und wieviel Schindluder dabei mit ihm getrieben werden würde. Ideologie, das hieß für die allermeisten Linken kaum mehr als der Sand, den die Herrschenden den Unterdrückten in die Augen streuten; und nicht wenige schwärmten zugleich, quasi als Antidot zu Lüge und Nebelwerferei, von der »gefestigten sozialistischen Ideologie«, welche die »Vorhut der Arbeiterklasse« (meist also einfach: sie selbst) auszeichne. Statt im Bewusstsein den Niederschlag des Seins, der gesellschaftlichen Verkehrsverhältnisse, zu erkennen, wurde Denken so auf eine Frage guten oder bösen Willens reduziert – exakt das also, was Marx und Engels an den Junghegelianern verspottet hatten.

Kein Wunder daher, dass ähnlich bescheidwisserisch auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit von Ideologie dahergeredet wird. Während der Sportredakteur noch den Fußballer Xavi Hernandez als den »Ideologen« hinter Barcelonas Tiki-taka-Spielsystem feiert, wettert man im Politikteil über die »Ideologen« aus wahlweise Griechenland, USA oder Israel, die uns friedliebenden, pragmatischen und kompromissbereiten Deutscheuropäern das Leben sauer machen; und die Modedenker verkünden derweil triumphierend, dass das »Zeitalter der Ideologien« nun endlich an sein Ende gekommen sei.

Gerade der letztgenannte Befund ist dabei selbst ein Schulfall von Ideologie: weil er in seiner Unwahrheit – als wäre die Unausweislichkeit von Sachzwang und Realpolitik wirklich unausweichlich und nicht politisches Programm – zugleich eine Wahrheit enthält: dass für den Vollzug der Verhältnisse herzlich unbedeutend ist, was ihre menschlichen Anhängsel über sie denken; dass es zu ihrer Aufrechterhaltung der Pläne und Wünsche der einzelnen nicht mehr bedarf. »Die Ideologie«, heißt es daher bei Adorno, »ist keine Hülle mehr, sondern das drohende Antlitz der Welt.«

Der Zwang, aus dem Widersinn der Verhältnisse Sinn zu schlagen, ist damit freilich nicht einfach verschwunden. Der Vortrag wird daher der Frage nachgehen, was Ideologie in der postideologischen Gesellschaft heißt. Als kritisches Modell soll dabei ein Gegenstand dienen, der Ideologie buchstäblich unter die Haut gehen lässt: das Denken über Geschlechterverhältnisse. Nichts, schließlich, erfreut sich in Zeiten der Krise, in denen Politik und Ökonomie längst hoffnungslos erscheinen, größerer Popularität als Körperliches – sei es, in Gestalt der poststrukturalistischen Gender-Theorie, im Geistesbetrieb oder sei es, in Gestalt von Ratgeberliteratur übers Einparken und Sockenfinden, als Alltagsreligion.


Sommersemester 2015

Vortragsreihe Interstellar:  Eine kritische Theorie von Gesellschaft, Technik und Fortschritt

12. Mai 2015: Subjektive und objektive Momente physikalischer Erkenntnis

Ort: HSZ/E05/U, Hörsaalzentrum Bergstraße 64
Zeit: 19,30 Uhr

Im Science-Fiction schien die Gesellschaft ab und zu noch von einer anderen Gesellschaft zu träumen, für die Maschinen zwar wichtig, aber weiterhin nur ein Mittel sind. Inzwischen starrt sie fast nur noch auf die Potenz utopischer Technik, die ihr dabei zum Selbstzweck gerinnt. Jede Utopie ist schal geworden, aber das Versprechen einer künftig vollständigen Beherrschung der Welt durch naturwissenschaftliche Erkenntnis und ihre Anwendung rauscht in scheinbar endloser Wiederholung über die Leinwände. Der häufig erschütternde Mangel an dramaturgischer Phantasie lässt viel Platz für wissenschaftliche Details und statt in wenigstens unterhaltsame Geschichten wird lieber in immer detailgetreuere Computeranimationen investiert. Aktuell führt der Film *Interstellar* die Zusammenarbeit von Kulturindustrie und Naturwissenschaft vor, dessen kurze Analyse den Vortrag über erkenntnistheoretische Grundlagen der Physik motivieren wird.

Die Hoffnung auf eine allmächtige Technik setzt auf den modernen Aberglauben, dass die Naturwissenschaften prinzipiell eine vollständige Beschreibung der Natur liefern könnten. Die Mathematik wird dabei nicht mehr für ein menschliches Symbol- und Denksystem, sondern für eine Art Schöpfungscode oder lingua franca der Natur gehalten. Doch naturwissenschaftliche Erkenntnisformen sind nicht nur historisch entstanden, sondern hängen auch logisch von der Konstitution der Gesellschaft ab. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse als unmittelbare Repräsentation der Natur an sich auszugeben, ist daher eine Gestalt aktueller Ideologie. Ihre Entwicklung lässt sich bei ihren Vorläufern, bei der Entwicklung der modernen Himmelsmechanik und anhand der heute noch eingeschränkt gültigen theoretischen Mechanik verfolgen. Die theoretischen Wandlungen der Mechanik während der Entstehung und Blütezeit des Kapitalismus, die ihre immer breitere Anwendung erleichterten, weisen im Widerspruch zur Ideologie aber deutlich auf ihren Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Entwicklungen hin.

Die Einsteinsche Relativitätstheorie erwies die klassische Mechanik dann als eine vor allem für kosmische Maßstäbe ungenügende Theorie und entschleierte damit nebenbei zugleich einen idealistischen Fehlschluss. Die auf Kant zurückgehende klassische Vorstellung von Raum und Zeit als reinen Formen unserer Anschauung wird durch die völlig kontraintuitive aber sich immer wieder bei Beobachtungen bewährende Verknüpfung von Raum und Zeit widerlegt. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis stellte sich neu und fordert bis heute statt wissenschaftlich verbrämter Esoterik und einer positivistischen Physik, die sich von jener manchmal nur noch mühsam unterscheiden lässt, eine moderne Erkenntniskritik.

Jörg Huber ist Physiker und publiziert häufiger in der Zeitschrift *Bahamas*

 

29. April 2015: Geschlecht und Technik. Körpertechnologien zwischen Befreiung

Ort: Willers-Bau, Zellescher Weg 12/14 WIL/C129/H
Zeit: 19,30 Uhr

Technik galt in der ‚ersten Welle’ der Frauenbewegungen um 1900 oft als Materialisierung einer ‚männlich’ konotierten instrumentellen Herrschafts-Rationalität, die in ihrer Einseitigkeit kritisiert und durch eine diametral entgegengesetzt konzipierte ‚weibliche Kultur’ (‚Harmonie’, ‚Ganzheitlichkeit’, ‚Einfühlung’ etc.) ergänzt werden sollte. Die ‚zweite Welle’ der Frauenbewegungen und erst recht post- und queer-feministische Strömungen seit den 1980er Jahren zeigten dann ein deutlich positiveres Verhältnis zur technischen Naturbeherrschung: Reproduktionsmedizin und Körpertechnologien galten nun als Schrittmacher weiblicher Emanzipation oder gar als Medium der endgültigen Sprengung aller an vermeintliche Naturunterschiede geknüpften geschlechtlichen Zwangsidentitäten und Hierarchien. Diese Technikeuphorie wird in jüngsten Debatten – etwa zum ‚Social Freezing’ – wieder von Ängsten konterkariert, in denen das Versprechen der Naturüberwindung einmal mehr in die Drohung einer totalen Unterwerfung umschlägt, die noch die letzten und individuellsten Rückzugsbereiche ‚natürlichen’ Lebens und körperlicher Selbstbestimmung den Zwängen der Kapitalverwertung subsumiert.
Ausgehend von diesen offenkundig ambivalenten und widersprüchlichen Einschätzungen der Technik in den Geschlechterdiskursen will der Vortrag herausarbeiten, warum die befreienden und/oder unterdrückenden Wirkungen einer Technologie – auch und gerade in Fragen der Geschlechter(de)konstruktion – nicht von ‚der Technik’ selbst, sondern von den gesellschaftlichen Verhältnissen und Zweckbestimmungen ihrer Anwendung abhängt.

Dr. Tino Heim (TU Dresden)

Audio: https://archive.org/details/VortragHeim

 

22. April 2015: Interstellar: Technische Beherrschung von Natur und Gesellschaft Von der Aufklärung zur Naturalisierung der Verhältnisse

Ort: Gerhart-Potthoff-Bau, Hettnerstr. 1/3 POT/106/U
Zeit: 18,30 Uhr

Die Objektivierung der Natur und die spiegelbildliche Subjektivierung der Gesellschaft war das Produkt der bürgerlichen Aufklärung. Die Objektivie­rung der Gesellschaft, die die Möglichkeit einer technischen Beherrschung von Wirtschaft und Gesellschaft bot, war die paradoxe Konsequenz jener Aufklärung. Der Vortrag wird diesen gesellschafts- und philosophiege­schichtlichen Fortschritt als Entwicklung von der bürgerlich-kosmopoliti­schen Freiheit zum sozialtechnischen Autoritarismus skizzieren.
Die bürgerliche Aufklärung zerstörte theoretisch, die bürgerlichen Revolutio­nen in Nordamerika (1776) und Frankreich (1789) praktisch eine Weltauffassung und politisch-ökonomische Praxis, in der die Einheit der Welt in Gott zu liegen schien: in der die Natur als subjektiv-göttlich, in der der absolute Herrscher als Personifikation göttlicher Rationalität galt. Die li­berale Theorie und Praxis war dagegen atheistisch: die Zerstörung der göttli­chen Welteinheit spaltete die Welt in Objekt und Subjekt, Natur und Ge­sellschaft, Sinnliches und Abstraktion. Auf dieser Grundlage erschien die Natur als ein Objekt, das technisch zu beherrschen, ökonomisch zu verwerten ist: in der Industriellen Revolution.
In der Großen Depression von 1873/79, die den Imperialismus einleitete, er­schien die Konsequenz der Aufklärung: die der Natur entgegengesetzte, ihr bewußtlos vorausgesetzte Gesellschaft erschien nun selbst als naturgesetz­licher Kosmos, der technisch – technokratisch – beherrschbar ist. Die Pla­nung von Wirtschaft und Gesellschaft wurde nun eingeleitet; der Sozialismus phantasierte die neue Gesellschaft als Planwirtschaft. Von hier reicht ein Weg zur Theorie und Praxis der Modernisierung, der keynesianischen Wirt­schaftsteuerung in den USA nach 1933 und zum Weltwirtschafts- und Welt­währungssystem von Bretton-Woods (1944-1973).

Gerhard Stapelfeldt lehrte bis 2009 als Professor am Institut für Soziologie der Universität Hamburg.

Audio: https://archive.org/details/VortragStapefeldt

 

17. April 2015: Interstellar: Zu einer kritischen Theorie über Technik, Fortschritt und Gesellschaft (Vortrag)

Ort: AZ Conni Dresden
Zeit: 19,30 Uhr

„…dass dieser Gesellschaft die Technik nur zur Erzeugung von Waren dient“. Zu einer kritischen Theorie über Technik, Fortschritt und Gesellschaft

Bekanntlich vermögen es weder Ochse noch Esel, den Sozialismus in seinem Laufe aufzuhalten. Eng mit dieser reichlich fortschrittsoptimistischen Weltsicht zusammen hängt die Auffassung, daß das gesamte Viehzeug ebenso wenig eine ökonomische Kategorie darstellt wie der Pflug, den der Ochse zieht, oder die Maschine, die der Prolet bedient. Bereits für Karl Marx galt als ausgemacht, daß die Art und Weise wie die Maschine genutzt wird, etwas vollkommen anderes als eben diese Maschine selbst ist. Wenngleich all die dampfenden Rösser von der gegenwärtig herrschenden kapitalistischen Produktionsweise hervorgebracht wurden und sie dem Primat des Profits nur zu ideal entsprechen – die Maschine ist für Marx und die ihm folgenden Generationen von Sozialdemokraten und Kommunisten nicht an die privatkapitalistische Initiative gebunden; unverändert läßt sie sich in einer Gesellschaft solidarischer Einzelner verwenden. Daß überdies, wie es bei Marx heißt, die Handmühle eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten ergibt, scheint nicht allein den engen Zusammenhang zwischen technischer und sozialer Entwicklung in der Rückschau anzuzeigen; ebenso sehr ist damit auch ein Ausblick auf die helle Zukunft erlaubt – wenn der Fortschritt nur ungebremst anhält. Die sozialdemokratischen wie die kommunistischen Nachfolger Marx’ und Engels’ sind ihren Vordenkern bereitwillig sowohl in Sachen Technikbegeisterung wie Geschichtsoptimismus gefolgt. Eine qualitativ andere Gesellschaft geht dann bereits in der Gleichung ‚Elektrifizierung plus Sowjetmacht’ auf.
Unterschlagen wird dabei, daß die Technik bereits in ihren Konstitutionsmerkmalen auf die ökonomischen Zweckreihen zugeschnitten ist; die Auspressung von Mehrwert ist der Maschine gleichsam einprogrammiert. Ebenso unterschlagen wird, daß mit den zum technischen Gerät geronnenen ökonomischen Zwecksetzungen immer auch bestimmte Sozialbeziehungen mit gesetzt sind; die Maschine erlaubt kaum andere Formen der Arbeitsteilung oder andere Formen der Arbeit. Daß dieser Gesellschaft, so ist bei Walter Benjamin zu lesen, die Technik allein zur Erzeugung von Waren dient, und damit ineins immer auch eine bestimmte Modifikation der allgemein-menschlichen Natur verbunden ist, wurde nur selten in Betracht gezogen. Damit ist der Bogen des Vortrags gewissermaßen gespannt; es wird ebenso sehr um die Technikbegeisterung im Marxismus wie um Ansätze einer kritischen Theorie der Technik und Naturbeherrschung gehen.

Dirk Lehmann hat in Duisburg und Bielefeld die Soziologie studiert. Er arbeitet gegenwärtig über die Entstehung und Entwicklung der kritischen Theorie und veröffentlicht unregelmäßig im Kritiknetz. Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft

 

Dezember 2013

Vortragsreihe Gesellschaftskritik & Psychoanalyse

Obwohl gesellschaftliche Verhältnisse menschengemacht sind, treten sie dem ohnmächtigen Individuum als unabänderbare Realität entgegen. Die kapitalistische Vergesellschaftung spiegelt sich in der Beschädigung der Subjekte, auch wenn diese nur selten als Pathologie offen zutage tritt. Zwar ist nicht jede psychische Disposition auf das „falsche Ganze“ zurückzuführen, aber der Einfluss derselben bleibt unbestreitbar. Denn durch die Anpassungsleistung, die das Individuum vollbringen muss, widerfährt ihm Leid, das es in seiner Ohnmacht aber nicht auf seine gesellschaftlichen Ursachen zu reflektieren vermag, sondern im Gegenteil nach außen gegen „das Andere“ oder sich selbst wendet und so aufs Neue die falsche Einrichtung reproduziert.
Sigmund Freud hat als Begründer der Psychoanalyse nicht nur der Behandlung von psychisch Kranken neue Wege gewiesen. Seine Schriften gaben auch Impulse für kulturtheoretische Auseinandersetzungen mit der Frage, wie sich die Sozialisationsprozesse der Subjekte auf ihren psychischen Apparat auswirken. Freud bestand zwar auf der Kulturleistung, der gesellschaftlichen und kulturellen Zurichtung, unterschlug dabei aber nicht, dass die Menschen sich um der Zivilisation willen schmerzhaft Wünsche versagen müssen. Dass der Einzelne sich dieser untersagten Begierden nicht vollends bewusst ist, dass sich Teile seines Seelenlebens der konkreten Herrschaft des eigenen Willens entziehen, ist Erkenntnis der Psychoanalyse. Darin liegt gleichsam die „dritte Kränkung der Menschheit“, weil es das Subjekt schmerzt, anzuerkennen, dass es schlicht nicht „Herr im eigenen Hause“ ist.

 Freuds Thesen zur Rolle der Triebe, des Unbewussten und der frühkindlichen Sexualität für die Subjektkonstitution wurde oft widersprochen. Häufig scheint jedoch die Kritik an der Psychoanalyse die besagte These von der „dritten Kränkung“ zu bestätigen und wieder einen Schritt hinter die Erkenntnisse Freuds zurück zu fallen. Die Kritische Theorie hingegen kombinierte ihre Gesellschaftskritik mit psychoanalytischen Kategorien, um die Wechselwirkungen von gesellschaftlichem und individuellem Wahn erfassen und kritisieren zu können.

In dieser Vortragsreihe soll der Frage nachgegangen werden, wie es heute um die Anschlussfähigkeit einer kritischen Gesellschaftstheorie an die Psychoanalyse bestellt ist. Können die Kategorien der Psychoanalyse noch erklären, was den vereinzelten Individuen des 21. Jahrhunderts geschieht?

Neben dem generellen Verhältnis von Gesellschaftskritik und Psychoanalyse, soll zunächst die feministische Kritik an Freud diskutiert werden. Zudem wird ein Vortrag dem Verhältnis von Geschlechtlichkeit, Fetischismus und Tod gewidmet sein. Anschließend wird es um die Bedeutung psychoanalytischer Kategorien zur Erklärung von Antisemitismus und um die Relevanz Freud‘scher Thesen zur Massenpsychologie im Hinblick auf Hass gegen Homosexuelle gehen.

 

Eine kritische Einführung in der Psychoanalyse
Johanna Schmidt

02.12.2013, HSZ / E01 / U, 18:30

Die Einwände gegen die Psychoanalyse – die meist schon vorab als widerlegte oder gar lächerliche Theorie abgetan wird – sind vielfältig: So steht sie in der Kritik,deterministisch, individualistisch und anti-feministisch zu sein. Ihr wird vorgeworfen, den Menschen als notwendiges Produkt seiner Kindheitsentwicklung zu verstehen. Sie würde des Weiteren gesellschaftliche Einflüsse auf das Individuum nicht hinreichend mit einbeziehen und könne somit soziale Phänomene nicht erklären. Außerdem konzentriere sich psychoanalytische Theorie nur auf das Männliche und rechtfertige eine Inferiorsetzung von Weiblichkeit.

In dem Vortrag sollen – nach einer kurzen Erläuterung psychoanalytischer Grundannahmen – solche Meinungen und Einwände auf ihre Richtigkeit überprüft und der Frage nachgegangen werden, inwieweit psychoanalytische Theorie für eine Ideologiekritik der modernen Gesellschaft fruchtbar gemacht werden kann. Im Vortrag werden neurotische Zwänge am Beispiel des Waschzwangs sowie familiäre sexuelle Übergriffe thematisiert.

Es besteht somit eine Trigger-Gefahr für Betroffene.

Audio: https://archive.org/details/EinfuhrungInDiePsychoanalyse

Hass auf Vermittlung und Lückenphobie. Zur Aktualität der Psychoanalyse
Christine Kirchhoff
04.12.2013, HSZ / 101 / U, 18:30

Theodor W. Adorno bezeichnete die Psychoanalyse als die einzige Psychologie, „die im Ernst den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität nachforscht“. Im Vortrag soll es darum gehen, diese Feststellung zu entfalten und damit auf ihre Voraussetzungen und Konsequenzen zu befragen:

Was heißt hier objektiv? Warum ist die Objektivität irrational? Was wäre demgegenüber rational? Ist Gesellschaftskritik auf Psychoanalyse verwiesen und wenn, warum? Warum ist es überhaupt wichtig, sich auch mit der individuellen Ver- und Bearbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse zu befassen? Warum ist die Psychoanalyse – zumindest der Möglichkeit nach – eine kritische Theorie?

Zunächst wird es also mit Rekurs auf Marx und die kritische Theorie v.a. Adornos um die Frage gehen, was unter gesellschaftlicher Objektivität zu verstehen ist.

Ausgehend von diesen Bestimmungen soll es im zweiten Teil des Vortrages um die subjektiven Bedingungen gehen und damit um die Psychoanalyse als kritische Theorie des Subjekts, um das Verhältnis von Natur und Kultur im Menschen, um Sexualität und Triebe, um die Freudsche Metapsychologie und wiederum darum, warum das alles gerade weil es so ungesellschaftlich daher kommt, eine Menge mit Gesellschaftskritik zu tun hat.

 

Psychoanalyse des Antisemiten
Nico Altenhoff

12.12.2013, HSZ / E01 / U, 18:30

Der Antisemitismus ist ein „sozialpsychologisches Phänomen“, welches auf der Deformierung von „Unbewusstem in falsches Bewusstsein“ beruht. Die Haltung des Antisemiten folgt einem zutiefst irrationalen Trend. Mit Hilfe der Psychoanalyse wurde ein Weg geschaffen, den unterbewussten Bereich in der menschlichen Psyche, d.h den Ursprung der Triebe und Leidenschaften, zum Gegenstand der psychologischen Forschung zu erheben. Obschon die Psychoanalyse, insofern sie auf sich selbst verwiesen bleibt, kein vollständiges Verständnis des Antisemitismus beanspruchen kann, ist sie doch unentbehrlich für eine Analyse des antisemitischen Individuums. Im Vortrag wird es darum gehen, die zentralen Thesen verschiedener ausgewählter Schriften zu referieren und diese Überlegungen, welche die Psychoanalyse des Antisemiten zum Gegenstand haben, zu charakterisieren.


Audio: https://archive.org/details/NicoAltenhoff

 

Der Sex-Appeal des Anorganischen. Zum Verhältnis von Fetischismus, Begehren und Vergänglichkeit
Lars Quadfasel

17.12.2013, HSZ / E01 / U

»Le mort saisit le vif«, der Tote packt den Lebenden, heißt es bei Marx im Vorwort zum Kapital. Diese Zeile enthält bereits in nuce, was Marx später als das Geheimnis des Fetischismus entfalten wird: die Verkehrung menschlicher Verhältnisse in ein Verhältnis von Dingen, die Vorherrschaft des unbelebten Produkts über dessen lebendigen Produzenten. Wenn im Kapital daher von der »toten Arbeit«, der vampirischen Gestalt des Kapitals die Rede ist, dann ist das nicht als blumige Rhetorik zu verstehen, sondern als präzise Bestimmung.

Wohl als erster hat Walter Benjamin diesen Gehalt der Kritik der politischen Ökonomie erfasst. Im Passagenwerk schreibt er über die Ware, »sie verkuppelt den lebendigen Leib mit der anorganischen Welt. Der Fetischismus, der dem Sex-Appeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv.« Damit erweitert er den Marx'schen Begriff des Fetischismus um eine sinnliche Dimension, die bei Marx selbst stets nur implizit bleibt – und verweist zugleich auf den Fetisch-Begriff bei Sigmund Freud, welcher gleichfalls, wenn auch mit vollkommen anderem Instrumentarium, die Verdinglichung des Lebendigen beschreibt.

Mit der Psychoanalyse ist immer zugleich auch die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter gesetzt. Nicht zufällig entwickelt Benjamin den Zusammenhang von Ware und Tod am Modellfall der Mode. Waren es in der Vormoderne die Frauen, denen das Skandalon der Sterblichkeit aufgebürdet wurde und die, in Abgrenzung zu der Ewigkeit gestellten patriarchalen Gemeinschaft, die Vergänglichkeit alles Irdischen zur verkörpern hatten, so heute die Waren, die sie auf der Haut tragen: Die ewige Wiederkehr des Neuen inszeniert die Flüchtigkeit – und verleugnet sie zugleich. Dieser Konstellation aus Geschlechtlichkeit, Fetischismus und Tod, aus Moderne und Archaik soll im Zuge des Vortrags nachgegangen werden – nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, wie es den Menschen gelingt, ausgerechnet die von ihnen entfesselten Destruktionskräfte auch noch zu lieben.

 

Massenpsychologie und Homosexualität
Tjark Kunstreich

19.12.2013, HSZ / E01 / U

 

Das regressive Bedürfnis, das wusste schon Freud, führt zur Auflösung der Einzelpersönlichkeit in die Masse: So beschreibt er in Massenpsychologie und Ich-Analyse, „(den) Schwund der bewussten Einzelpersönlichkeit, die Orientierung von Gedanken und Gefühlen nach gleichen Richtungen, die Vorherrschaft der Affektivität und des unbewussten Seelischen, die Tendenz zur unverzüglichen Ausführung auftauchender Absichten“ als seine Bestandteile. Das „Ich-Ideal“ wird nach Freud an den Führer delegiert. Doch die Zeiten haben sich geändert und „die Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft hat das Freudsche  Modell durch ein soziales Atom ersetzt, dessen seelische Struktur nicht mehr die Qualitäten aufweist, die Freud dem psychoanalytischen Gegenstand zusprach“ (Herbert Marcuse). Was ist mit dem Führer geschehen? Die Massenbewegung gegen die „Ehe für alle“ in Frankreich wollte zurück zu einem Zustand, in dem die Gesellschaft das „Freudsche Modell“ wieder einsetzt – die Verantwortung für die soziale Atomisierung wird jedoch den Homosexuellen und anderen Minderheiten zugeschrieben, die von diesem Prozess profitiert haben. Die scheinbar führerlose Massenbewegung in Frankreich gibt ebenso wie der Homosexuellen-Hass islamisierter Banden Anlass zu der Frage, weshalb für diese scheinbar egalitären Gruppierungen die Befassung mit der Homosexualität von so großer Bedeutung ist.

 

 

Wintersemester 2012/2013

Krise der EU - Krise Europas? Vortragsreihe mit Gerhard Scheit, Karl Pfeifer, Federica Matteoni und Till Grefe vom 21. - 24.1.

 

 


Sommersemester 2012

Lesekreis: "Israel in the Middle East"

 

Das Referat Politische Bildung lädt im Sommersemester 2012 zum Lesekreis "Israel in the Middle East" ein. Der Betreuer des Lesekreises lebte selbst für ein halbes Jahr in Israel, eingeladen sind jedoch alle mit Interesse am Thema. Die Sitzungen finden jeden Dienstag von 16:40 bis 18:10 im Raum SCH/316a/U im Georg-Schumann-Bau auf dem Münchner Platz 3 statt... mehr

 


Frühjahr 2011

Veranstaltungsreihe zum 13. Februar großer Erfolg

 

Wir freuen uns über das starke Interesse der Studierendenschaft an unserer Veranstaltungsreihe zum 13 Februar. Insbesondere zum ersten Termin gab es mit 80 Teilnehmenden enormen Andrang.

Was vor 13 Jahren als spontane Aktion von 40 Nazis begonnen wurde, hat sich in Dresden bis heute zum größten rechten Aufmarsch Europas entwickelt. Tobias vom Antifaschistischen Rechercheteam Dresden skizziert die TeilnehmerInnenzahlen des Trauermarsches über die Jahre. Es sei die Anschlussfähigkeit an das bürgerliche Gedenken, das den 13. Februar für NPD und Kameradschaften so attraktiv gemacht habe. Das rituelle Trauern um die Dresdner Toten kann leicht zum ganzheitlichen Trauern um deutsche Opfer stilisiert werden. Ausgeblendet wird, dass diese deutschen “Opfer“in ihrer großen Mehrheit den Nationalsozialismus unterstützten, denn wer Opfer ist kann ja kein Täter sein.

Im Anschluss stellten zwei Vertreter des Bündnisses Dresden Nazifrei ihr Konzept für den 19. Februar 2011 vor. Wie im Jahr zuvor wurde geplant, den rechten Aufmarsch durch friedliche Massenblockaden zu verhindern. Nach der Veranstaltung gaben die Referenten außerdem für das Campusradio Dresden Interviews.

In der Woche darauf referierte vor ca. 60 Gästen Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen über den Sinn und Unsinn des Extremismusbegriffes. Das Label 'extremistisch' habe sich in den letzten Jahren zum diskursiven Totschläger entwickelt, um unliebsame Meinungen zu diskreditieren. Sowohl aus sozialwissenschaftlicher, politischer als auch empirischer Sicht gelte der Terminus als ungenügend.

Weiterführende Literatur zum Download (PDF, 708KB): Gibt es Extremismus?


Mai 2009

Stauffenberg und der 20. Juli 1944 im deutschen Erinnerungsdiskurs

6. Mai 2009, 19:00 im HSZ Bergstr.46 Raum E01
Eine Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Antifa Hochschulgruppe

Der Vortrag beschäftigt sich mit dem Hitler-Attentäter Stauffenberg und seiner Rolle im deutschen Erinnerungsdiskurs, d.h. mit seiner Glorifizierung als nationalem Held. Stauffenberg wird dabei als aufrechter Deutscher dargestellt, auf den sich als Vorkämpfer der Anti-Hitler-Koalition positiv bezogen werden kann, wobei dessen Vergangenheit im Nationalsozialismus und seine nationalistische, reaktionäre und antisemitische Geisteshaltung unter den Tisch fallen. Durch die Schaffung solcher positiver Bezugspunkte wird der Nation Deutschland wieder zu einer positiven Identität verholfen, die nur durch die bewusste Verdrehung der Geschichte und die Ausblendung individueller Täter_innenschaft möglich ist. Thematisiert werden soll unter anderem die Bedeutung von nationalen Helden und Mythen, die Diskurse, in denen diese auftauchen, und welche Zwecke und Bedeutungen diese haben.

„Allein die Bezeichnung ,Widerstand‘ für die Männer des 20. Juli erscheint mir vermessen. Es handelt sich wohl doch eher um schwankende Opposition. Die Partisanen in Polen und in der Sowjetunion, in Jugoslawien und Frankreich, die Haltung des Hofes und der Nazigegner in Dänemark, der Aufstand im Warschauer Ghetto, der Aufstand in Sobibor, der Widerstand in Auschwitz, Buchenwald und Mauthausen – das sind nur Beispiele für die europäische Geschichte des Widerstands gegen deutsche Besatzung, gegen den Nationalsozialismus und damit – und dies sei zu betonen – gegen die deutsche Wehrmacht, gegen preußisches Soldatentum und deutsche Militärtradition.“

Frank Stern, Wolfsschanze versus Auschwitz. Widerstand als deutsches Alibi?
in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 42 (1994), S. 647.

HINWEIS: Ausgeschlossen von der Veranstaltung sind Personen, die rechtsextremen Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige Menschen verachtende Äusserungen in Erscheinung getreten sind. Die Veranstaltenden behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und diesen Personen den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser zu verweisen.


 

Februar 2009

Veranstaltung zum Thema Abschiebehaft

2. Februar 2009, 19:00 im Raum 361 des Gerhart-Potthoff-Baus, Hettnerstr.1/3

“Na dann gute Reise...”

So verabschieden wir uns von Menschen, die ihren wohlverdienten Urlaub antreten, und es ist durchaus ehrlich gemeint. Einen zynischen Beigeschmack erhält dieser Wunsch allerdings spätestens dann, wenn diese Reise nicht freiwillig angetreten wird.
Jährlich sind es fast 10.000 Menschen, die diese unfreiwillige Reise antreten müssen, weil sie aus Deutschland abgeschoben werden. Vorangegangen ist dieser Abschiebung in vielen Fällen eine Abschiebehaft, die bis zu 18
Monaten dauern kann.
Menschen kommen ins Gefängnis, deren einziges “Verbrechen” der Wunsch nach einem besseren Leben ohne Krieg, Armut und Verfolgung ist.

Abschiebeverfahren und insbesondere Abschiebehaft stehen seit Anbeginn in der Kritik von Menschenrechts-organisationen. Vorreiter in Deutschland ist der Verein “Hilfe für Menschen in Abschiebehaft” im westfälischen Büren.
Frank Gockel, ein Aktivist der Bürener Gruppe, wird am Montag, 2. Februar 2009 an der TU Dresden zu Gast sein, um über das in der Öffentlichkeit wenig bekannte Abschiebehaftverfahren zu informieren.
Eingeladen wurde er von der Dresdener Initiative vokü.cartonage, die die Veranstaltung “Na dann gute Reise. Abschiebehaft - ein Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland” in Kooperation mit dem Referat Politische Bildung beim StuRa der TU und der Abschiebungshaft-Kontaktgruppe Dresden bei pax christi organisiert.
Letztere wird über die Situation von in der Dresdner JVA untergebrachten Abschiebehäftlingen und Möglichkeiten der Unterstützung berichten.
Ausserdem werden Filmausschnitte zum Thema zu sehen sein, und es besteht die Möglichkeit zu Nachfragen und Diskussion.

contact zur Initiative vokü.cartonage: vokue_cartonage[at]fastmail.net

HINWEIS: Ausgeschlossen von der Veranstaltung sind Personen, die rechtsextremen Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige Menschen verachtende Äusserungen in Erscheinung getreten sind. Die Veranstaltenden
behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und diesen Personen den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser zu verweisen.


 

Januar 2009

Veranstaltungsreihe zu Erinnerungskultur

in Zusammenarbeit mit dem Vorbereitungskreis 13. Februar 2009

Aus der Geschichte gelernt?
Eine kritische Betrachtung deutscher Erinnerungskultur am Beispiel Dresden.

“Was geschah, geschah. Aber daß es geschah, ist so einfach nicht hinzunehmen.
Ich rebelliere: gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren läßt und es damit auf empörende Weise verfälscht.” Jean Amery

Der Versuch, eine deutsche Nationalidentität zu rekonstruieren, bestimmt seit 1945 die öffentliche Debatte in Deutschland. Damit einher ging immer auch die Bestrebung ein unbelastetes Geschichtsbild zu etablieren. Waren es bis in die 90er Jahre die offensiven Ansätze den Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen, ist es seit der Berliner Republik gerade die Anerkennung deutscher Vergangenheit und die eigene Läuterung, aus welcher schamlos politischer Mehrwert gezogen wird - nicht trotz, sondern wegen Auschwitz führe Deutschland wieder Krieg. Denn man habe aus der Geschichte gelernt.

Diese Geschichte, die Schuld, welche anerkannt wird, bleibt jedoch abstrakt und unkonkret. Das Interesse einer gegenwärtigen Geschichtsbetrachtung ist es gerade nicht deutsche Identität mit Täterschaft zu belasten. Stattdessen findet vor allem im institutionalisierten Gedenken eine Einebnung aller Differenzen statt - gedacht wird der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft von gestern und heute. Auch soll der eigenen Leiderfahrungen durch Vertreibung und Bombardierung gedacht werden. Beides vollzieht eine moralische Gleichsetzung von Täter_innen und Opfern durch das Ausblenden von Kausalitäten sowie politischer und historischer Kategorien.
Das jährliche Gedenken in Dresden anlässlich der Bombardierung der Stadt am 13./14. Februar 1945 erscheint in diesem Kontext als ein Beispiel für diese Entwicklungen im Diskurs um Erinnerung und Geschichte.
In vier Abendveranstaltungen werden deshalb zunächst die aktuellen Koordinaten des bundesdeutschen erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Diskurses beleuchtet um daran anknüpfend auf die Gedenkpraxis in Dresden einzugehen.

 

Dienstag 20.01.09 19Uhr im Beyerbau, BEY 81, Bergstrasse, direkt rechts neben dem HSZ
Die Nation der geläuterten Gedenkexpert_innen - Nivellierung, Gleichsetzung und Identitätsbildung im deutschen Erinnerungsdiskurs am Beispiel des neuen Bundesgedenkstättengesetzes
Claudia Krieg, Leipzig

Die kurze kritische Einführung in den deutschen Erinnerungsdiskurs beruht auf der Benennung der zentralen Funktionen und Bedeutungen von Erinnerung. Im Bezug auf das institutionalisierte Gedenken an die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands in der vereinigten BRD und dem darin aufscheinenden Zusammenwirken von Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik wird deutlich, wie sich die aktuelle Verfasstheit dieses Gedenkens vor allem durch Strategien der Nutzbarmachung von Geschichte für eine deutsch-nationale Identitätsbildung auszeichnet. Die Herstellung eines positiven kollektiven nationalen Bezugsrahmens und eine “Normalisierung” des Bildes der “deutschen Nation” nach Innen und Außen manifestieren sich unter anderem dort aber auch auf anderen politisch-sozialen nationalen Feldern kollektiver und individueller Rekonstruktion von Erinnerung. Ein positiver Bezug zu einem Kollektiv entsteht dabei über den Ausschluß von Täter_innen und mithilfe der Betonung und Heraushebung des Opferaspekts. Diese Nivellierung des Opfersbegriffs ist wiederum Teil der “Normalisierung”, die mithilfe von weiteren Relativierungen entsteht - in diesem Fall der NS-Verbrechen zugunsten von positiven Konnotationen deutscher Geschichte.

Das im Juni 2008 verabschiedete neue Bundesgedenkstättengesetz der Bundesregierung ist ein exemplarisches Beispiel für begriffliche Verschiebungen im Feld der bundesdeutschen Erinnerungs- und Gedenkstättenpolitik. Hier wird deutlich, wie sich unter dem Eindruck der fortwährenden Festschreibung von Totalitarismus- und Extremismustheorien die Täter-Opfer-Umkehr im Kontext der nationalsozialistischen Verbrechen längst vollzogen hat. Eine Betrachtung der zentralen Aussagen dieses Gesetzes soll überleiten zu einem Ausblick auf zukünftige Entwicklungslinien, anhand derer zum Beispiel Günther Jacob im Bezug auf Gedenkstätten von “nationalen Weihestätten” spricht.

 

Donnerstag 22.01.09 19Uhr im Beyerbau, BEY 81, Bergstrasse, direkt rechts neben dem HSZ
Gedenken in Dresden am Beispiel des 9. November
Gunda Ulbricht, HATiKVA Dresden

Im Gegensatz zum jährlichen Gedenken am 13. Februar ist das Gedenken anlässlich der Novemberpogrome am 9. November 1938 in Dresden weder so stark frequentiert noch Gegenstand intensiver Debatten und Auseinandersetzungen in der Stadt. Daran wird ganz praktisch deutlich, dass zugunsten der Ermöglichung eines positiven kollektiven nationalen Bezugsrahmens die Täter_innenperspektive in den Hintergrund rückt, während die Opferperspektive hervorgehoben wird. Möglich wird dies nicht zuletzt durch ein bis heute vermitteltes Geschichtsbild welches die nationalsozialistische Gesellschaft trennt in “die Nazis” einerseits, welche entweder vollkommen abstrakt bleiben oder sich auf die Führungsclique ala Guido Knopps Hitler´s Helfer beschränken und andererseits in die “normalen Deutschen”.
Um dieser These nachzugehen, beschäftigt sich die Veranstaltung mit dem gesellschaftlichen Diskurs um den 09. November in der DDR und im vereinigten Deutschland. Wie wurde die Reichspogromnacht im Geschichtsunterricht der DDR vermittelt? Welche Auseinandersetzungen und Reflexionen fanden statt? Wurde der Tag als die Tat weniger SA- Leute oder als der gewaltsame Ausbruch vorhandener antisemitischer Ressentiments in der deutschen Bevölkerung behandelt? Wie hat sich das Gedenken an den 09. November im Zuge der Wiedervereinigung verändert? Diese Fragen gilt es in der Veranstaltung zu erörtern.

 

Dienstag 27.01.09 19Uhr im Beyerbau, BEY 81, Bergstrasse, direkt rechts neben dem HSZ
Dresden, 13. Februar - Die erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen um Ritual- und Symbolstrukturen aus der AkteurInnenperspektive 
Claudia Jertzak, Dresden

“Hamburg, Dresden and Berlin will be forever trumped by Auschwitz, Sobibor, and Buchenwald.”, schrieb 2002 ein Leser der us-amerikanischen Zeitschrift New Yorker und weist damit auf den Symbolwert der Dresdner Ereignisse hin. Aufzählungen dieser Art bestimmen nicht nur die Außenwahrnehmung des Dresdner Gedenkens, sondern sie bilden ebenfalls ein Element der lokalen Erinnerungskultur. Das Dresdner Gedenken am 13.Februar wird maßgeblich von lokalen Akteur_innen gestaltet, die darin ihre erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Vorstellungen verwirklichen. Die öffentliche Memorialkultur als Teil der Erinnerungskultur bedient sich einer Ritual- und Symbolstruktur, die sich in Folge von Auseinandersetzungen verändert. Dieser Prozess unterliegt seit der Wiedervereinigung 1990 einer größeren Dynamik und ist noch nicht abgeschlossen. Die Auseinandersetzungen kulminieren in der Bestimmung der Sicherungsformen des kulturellen Gedächtnisses.

Der Vortrag erläutert diesen gegenwartsbezogenen funktionalen Gebrauch der Vergangenheit und daraus erwachsende Identitäten anhand der Dresdner Erinnerungskultur zu den Bombardements am 13./14. Februar 1945.
Welches Bild der Stadt im Nationalsozialismus verwenden die AkteurInnen? In welchem Zusammenhang stehen Versöhnungs-Topos und internationale Beziehungen? Dresden wird in eine epochenübergreifende Reihe von Stätten militärischer Zerstörung und Massenmordes mit je hohem Symbolwert gestellt. Wie nutzen die Akteur_innen diese architektonischen und medialen Deutungsversuche des historischen Ereignisses hinsichtlich des Bildes einer europäischen bzw. internationalen Opfergemeinschaft? Welche Rolle spielen Zeitzeug_innen?

 

Donnerstag 29.01.09 19Uhr im Beyerbau, BEY 81, Bergstrasse, direkt rechts neben dem HSZ
Erinnerung und deutsche Geschichte in der medialen Verarbeitung -
Die neuen deutschen Histotainment-Event-Movies

Antonia Schmidt, Wuppertal

Die Fokussierung auf Deutsche Opfer im Erinnerungsdiskurs der vergangenen Jahre wurde nun auch medial umgesetzt. “Historien-Filme” wie “Dresden”, “Die Flucht” oder “Gustloff” brachten die Kollektivsymbole deutschen Leidens für ein Millionenpublikum auf die Mattscheiben. Diese ‘event-movie´s’ verbinden Fiktion und Fakten, erzeugen so ein von der Realität abweichendes Geschichtsbild, welches jedoch aufgrund der Aufmachung volle Authentizität für sich in Anspruch nimmt. Sie offerieren ein Identifikationsangebot, welches ganz im Einklang mit dem Bedürfnis nach ungebrochener deutscher Identität, Unschuld und Leiden statt der Auseinandersetzung mit deutscher Schuld enthält. Damit sind diese Filme sowohl Ausdruck als auch Teil einer Transformation von Erinnerung.

Besonders das Melodram “Dresden” ist symptomatisch für das Verhältnis des ,wiedervereinigten’ Deutschlands zur NS-Vergangenheit: Die Täterschaft Deutscher wird zwar durchaus thematisiert, Identifikationsangebot ist gleichwohl der Opferstatus. Gleichzeitig repräsentiert Dresden ein religiöses Verständnis von Schuld, die abgelöst vom Tatzusammenhang durch Buße abgeglichen werden kann. Entpolitisiert und enthistorisiert, ist das Identitätsangebot universal: der seinem Schicksal wie einem Naturereignis ausgelieferte Gute Mensch, an dessen situativen Entscheidungen sich sein Schuldigsein misst. Zentraler Mechanismus bei der Konstruktion dieses universalisierten Opferbegriffs ist die Trennung von dessen Konstitutionsbedingungen. Zur Bebilderung deutschen Leidens wird in Dresden neben der Ikonografie der Passionsgeschichte vor allem das kulturelle Bilderrepertoire von Holocaustrepräsentationen verwendet.

Der Vortrag analysiert die inhaltlichen und formalen Mittel, mit denen diese Viktimisierung filmisch umgesetzt wird und arbeitet anhand der Histotainment-Event-Movies die Mechanismen der Neuinterpretation deutscher Geschichte heraus.

Alle Veranstaltungen mit freundlicher Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung 

Vorderseite Flyer


 

November|Dezember 2006

Mensatalk

Das Referat Politische Bildung wird im Wintersemester ´06 erstmals gemeinsam mit dem Studentenwerk den Mensatalk veranstalten. Wir werden die Gäste und Moderator_innen einladen.
Veranstaltungsort und Zeit bleibt gleich; Mensa Bergstraße und 13.00 Uhr.


„TU Dresden – 178 Jahre Männlichkeit“

Mensatalk am Mittwoch 01. November´06

Zu Gast ist Dr. Hildegard Küllchen, Frauenbeauftragte der TU Dresden. Die Moderation übernimmt Sabine Friedel, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich der TU Dresden.

Vorderseite Flyer

Ankündigung im Spiegelei
Neues vom Mensa Talk

Zu Beginn des Wintersemester 2006 wird es in der Veranstaltungsreihe Mensa Talk eine Veränderung geben. Das Referat Politische Bildung des TU-Studentenrates tritt jetzt neben dem Studentenwerk Dresden als Mitveranstalter auf und lädt die Gäste und die dazu passenden, kenntnisreichen Moderatoren ein. Unverändert bleibt es beim Veranstaltungsort Mensa Bergstraße und bei der Uhrzeit 13.00 Uhr. Erstmals findet der „renovierte“ Mensa Talk am Mittwoch, den 01.November, statt. Der Titel lautet „TU Dresden – 178 Jahre Männlichkeit“.

Zu Gast ist Dr. Hildegard Küllchen, Frauenbeauftragte der TU Dresden. Die Moderation übernimmt Sabine Friedel, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich der TU Dresden. Es sind durchaus provokante Fragen, die bei diesem Gespräch eine Rolle spielen sollen: Ist eine Frauenbeauftragte in Zeiten leerer Kassen überhaupt noch tragbar? Welche konkreten Probleme kann eine Frauenbeauftragte lösen, wird sie übergangen, blockiert, ernst genommen, etc. Zwei weitere MENSA TALK-Termine gibt es im Dezember (06.12.) und im Januar 2007 (17.01.) Themen und Gäste hierfür werden im nächsten Spiegel-Ei veröffentlicht.
Anja Buch

Bericht von der Seite des Studentenwerk
01.11.2006: MENSA TALK - Bekanntes Format in neuem Gewand

 

ALLES AUF DIE BARRIKADEN!
Protestformen gegen Studiengebühren

Mensatalk am Mittwoch 06. Dezember´06

Zu Gast sind Vertreter_innen der Vollversammlung und des autonomen Seminars.
Die Moderation übernimmt Eric Seidel, Geschäftsführer für Hochschulpolitik im Stura der TuD.


 

Mai|Juni 2006

Veranstaltungsreihe mit UNIRATIO

Eine Vortragsreihe des Referats Politische Bildung und UNIRATIO

“Im Herzen angekommen - Strategien und Konzepte der extremen Rechten in Sachsen und Interventionsansätze”

 

Mittwoch_24.Mai 06_18.30 Uhr_Hörsaalzentrum, Bergstrasse HSZ/204
Die Sächsische Schweiz - „brown is beautiful“
Referent_innen: Petra Schickert (Kulturbüro Sachsen - MBT), Steffen Richter (AKuBIZ e.V.)

Zwischen Dresden und Tschechien liegt der Landkreis Sächsische Schweiz mit seinen rund 150.000 Einwohner_innen. Von den etwa 70.000, die zur Landtagswahl 2004 wählen gingen, wählte jede_r 10. die NPD. In einigen Gemeinden erhielt die Partei sogar über 20%. Wie kommt es aber, dass vor allem in dieser Region die NPD so integriert ist? Selbst das Wissen über den NPD-Landtagsabgeordneten (Sächsische Schweiz) Uwe Leichesenring, der eine gute Zusammenarbeit mit militanten Neonazis pflegt, beunruhigt seine Wähler_innen nicht.

Das die NPD nicht der einzige nazistische Magnet ist, zeigt die Liste der Organisationen, die schon in der Sächsischen Schweiz aktiv waren. Diese reicht von der verbotenen „Wiking Jugend“ über die verbotenen „Skinheads Sächsische Schweiz“, bis hin zur „Copitzfront“.Da sich scheinbar vor allem Jugendliche für die rassistische Ideologie interessieren, stellt sich die Frage, wie schwierig der Versuch ist, „Alternative Jugendarbeit“ zu leisten. Nicht nur auf Grund der starken Nazisszene gibt es da Probleme, sondern auch, weil es immer wieder schwer ist in Städten, Gemeinden und Kreis eine Sensibilisierung zu erreichen. Und dies liegt nicht nur an an den Parlamentarieren der NPD…

 

Mittwoch_31.Mai 06_18.30 Uhr_Hörsaalzentrum, Bergstrasse HSZ/204
Heute Dresden - Morgen Deutschland?
Referent_innen: Internetprojekt nip.systemli.org, Johannes Lichdi (MdL)

Im September 2004 standen lachende Neonazis auf der Bühne im sächsischen Landtag und schwenkten gemeinsam eine NPD-Fahne. 190 909 Wähler_innen (9,2 %) hatten der neonazistischen Partei ihre Stimme gegeben. Mit plumpen Parolen wie „Grenzen dicht!“ oder „Schnauze voll!“ gelang es der Neonazi-Partei erstmals seit 1968 wieder in ein Landesparlament einzuziehen. 12 Abgeordnete gehörten anfangs der NPD-Fraktion an. Auch wenn seitdem die Fraktionsgrösse mehrmals überraschend wechselte, kann die NPD auf 1 1/2 Jahre parlamentarische Arbeit zurückblicken. Wie haben sie im Landtag mitgewirkt? NiP nimmt die Protagonist_innen der Fraktion und den Mitarbeiter_innen-Stab unter die Lupe. Neben der ausserparlamentarischen Zusammenarbeit mit den Neonazis der Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) und der Freien Kräfte Sachsen werden Themenwahl und -verteilung, die Präsentation im Plenum und die Ausschussarbeit analysiert.

Wie wirkt sich die Anwesenheit der NPD auf die Neonaziszene und ihr WählerInenpotential aus? Derzeit tauchen NPD-Kandidat_innen aus Mecklenburg-Vorpommern auf, die als Praktikant_innen einen Einblick in die Strategien neonazistischer Parlamentsarbeit gewinnen wollen. Und nicht nur für bevorstehende Lantags- und Kommunalwahlen gilt: Wenn keine permanente kritische Auseinandersetzung mit ihren Inhalten stattfindet, besteht die Gefahr, dass das von der NPD vertretene neonazistische Gedankengut in der Gesellschaft verfestigt.NiP ist ein Internetprojekt, dass es sich im Vorfeld der Landtagswahlen 2004 zum Ziel gesetzt hat, die parlamentarische Arbeit der Neionazis kritisch zu dokumentieren. Zusammen mit dem Grünen-Land- tagsabgeordneten Johannes Lichdi wird das Vorgehen der NPD analysiert.

 

Mittwoch_14.Juni 06_18.30 Uhr_Hörsaalzentrum, Bergstrasse HSZ/204
Neonazistische Jugendkultur in Sachsen
Referent_innen vom a.l.i.a.s. (antifascism | literature | information | archiv | stuff)

Zeig mir was du trägst - ich sag dir wie du denkst? Ganz so einfach scheint diese Gleichung nicht mehr aufzugehen, zumindest nicht was Neonazis angeht. Die Springerstiefel tragende Spiegelglatze taugt nur noch als gängiges Klischeebild, hat mit einer jugendkulturellen Realität aber nichts mehr gemein. Hatecorer mit Piercings, Tattoos und Spitzbärten, Hooligans im pastellfarbenen Lacoste- Poloshirt, “Autonome Nationalisten” mit schwarzem Windbreaker, Sonnenbrille und Basecap, oder junge Menschen im ganz “normalen” Outfit - zu erkennen sind neonazisitische Jugendliche dann nur noch an den dezent getragenen Codes und Symbolen, in Form von Buttons, T-shirts oder Klamottenmarken.

Ohne dabei in Widerspruch zu geraten, vereinen Neonazis ihr Weltbild mit ihrer jeweiligen Alltagskultur. Nicht der Style ist entscheidend für die Szene, sondern die Ideologie. Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus sind die ideologische Klammer für eine sich dynamisch entwickelnde und immer weiter ausdifferenzierenden neonazistischen Jugendkultur. Diese Entwicklung macht sich aber nicht nur an Äußerlichkeiten fest, sondern betrifft auch die Inhalte. So ergänzen Themen wie Kapitalismus, Globalisierung oder Umweltschutz das klassische rechte Repertoire um gesellschaftliche Diskurse, die für viele Jugendliche anschlussfähig sind.

Einen Überblick zu aktuellen stilistischen und thematischen Entwicklungen in der Neonaziszene sowie eine Einschätzung, wie es zu diesen Entwicklungen kam und wohin diese führen könnten, will die Veranstaltung am Beispiel von Sachsen geben. Wie wirken sich diese auf Jugendkulturen aus? Gibt es einen rechten Mainstream? Welche Möglichkeiten gibt es, einem solchen Mainstream unter Jugendlichen in Sachsen zu begegnen? Diesen Fragen soll sowohl im Vortrag als auch in der anschließenden Diskussion auf den Grund gegangen werden.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - diese tollen Errungenschaften hat uns die Aufklärung gebracht. Frauenbewegungen seit den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft klagten Menschenrechte, Wahlrecht, 
Lohnarbeit, Selbstbestimmung auch für Frauen* ein. Nun sind wir endlich auch Staatsbürger und Arbeitskräfte, unser Körper und unsere Sexualität gehören uns. Oder? Viele frühere Forderungen sind erfüllt, 
dennoch sind FrauenLesbenTransInterQueers gesellschaftlich weiterhin klar unterlegen.

Wo ist der Haken? Wie kommt diese Unlogik zustande, wie hält sie sich? Sind vorhandene Ungleichheiten ein Rest aus vormodernen Zeiten, der demnächst von der -eigentlich schon umgesetzten- Gleichstellung, vom Fortschritt, überwunden wird? (Nein, das Problem ist ein sehr modernes, wie ich zeigen will.)

Eine permanente Geste des Feminismus scheint zu sein: Wir (Frauen*) wollen übrigens AUCH die gleichen Rechte haben. Wir sind aber AUCH in der Lage zu XYZ. Feminismus muss aber AUCH zur Gesellschaftskritik dazugehören. usw. Super nervig. Dass solches ständig neu eingefordert werden muss, lässt uns (Feminist_innen) und die Kritik fragmentiert aussehen. Wir müssen scheinbar immer wieder von vorn anfangen. Sind wir zu blöd, um endlich die Lösung zu finden?

Und wieso zur Hölle müssen wir immer wieder aufs Neue beweisen, dass wir AUCH intellektuelle Vorträge halten können?